Er hat ein grosses Herz für Müllkippenkinder, aber nicht für Journalisten. Ein Gespräch mit Schriftsteller John Irving
Aus seinen Büchern weiss man: Er spricht nicht gern mit Journalisten – vor allem nicht, wenn sie oberflächliche Fragen stellen. Einen Fotografen dürfe man nicht mitnehmen, hiess es. Aber: John Irving freue sich sehr, wenn man seine Romane kenne. Und: John Irving beantworte nicht gern politische Fragen. Über die Amtszeit von Barack Obama oder den Wahlkampf von Donald Trump würde man nicht mit ihm reden können, so viel war klar. In der Lobby seines Zürcher Hotels sitzt die Journalistin, die Irvings Lesung am Vorabend moderiert hat. John Irving sei schwierig, sagt sie, er sei müde von der Pressereise. O Schreck – bin ich hier in einem Raubtierzwinger gelandet? Schon steht er da. Der ehemalige Ringer hat den elastischen Gang einer Raubkatze. John Irving ist erstaunlich klein. Er schaut mich an: ein Löwe.
John Irving, warum wollen Sie nicht über Politik sprechen?
John Irving: Ich habe mehr als fünfundzwanzig Jahre an diesem Roman geschrieben. Sie können mit vielen anderen Leuten über Politik reden, aber nur mit mir über mein Buch. Von der kurzen Zeit, die wir haben, würde ich lieber nichts wegnehmen für ein Gespräch darüber, was passieren wird – viele Leute reden darüber, und niemand weiss etwas davon.
Ihr Buch hat starke politische Kraft. Ist das kein Widerspruch?
Nein. (ungehalten) Wenn Sie über die katholische Kirche reden wollen oder über sexuelle Diskriminierung, Dinge, die Thema vieler meiner Bücher waren . . . (der Löwe knurrt). Jetzt haben wir schon ein paar Minuten verbraucht. Wenn Sie so weitermachen wollen, nur zu!
Nur eine politische Frage: Die katholische Kirche ist zentrales Thema Ihres neuen Romans. Unterdessen haben wir einen neuen Papst, den ersten Jesuiten. Was denken Sie über ihn?
Papst Franziskus ist angenehm, was er sagt, ist nett. Aber die katholische Kirche wird ihre Position gegen Abtreibung, gegen die Ehe von Homosexuellen oder dagegen, Frauen Zugang zu Verhütung zu verschaffen, nicht ändern. Bei diesen Themen redet die Kirche weder für den Rest der Welt noch für die meisten Katholiken. Die Jungfrau Maria ist Heldin des Romans. Ich mache mich nicht darüber lustig, was die Leute glauben. Aber ich mache mich sehr wohl lustig über die Institution der katholischen Kirche. Die Menschen glauben an das Wunder der ursprünglichen Geschichte. Mohammed ist ein Wunder, Jesus und Maria sind Wunder. In «Strasse der Wunder» setzt sich Maria durch. Ohne ihre Tränen würde Juan Diego nie von zwei homosexuellen Männern adoptiert werden.
Man würde gerne mit dem Autor ausführlich über sein Buch reden. Nur kann man nicht voraussetzen, dass die Zeitungsleser die Geschichte der beiden Müllkippenkinder kennen. Von der rotzigen Lupe, die Gedanken lesen kann und glaubt, die Zukunft zu kennen, aber in einer Sprache spricht, die nur ihr Bruder Juan Diego versteht. Er, der sich auf der Müllkippe selbst das Lesen beigebracht hat. Beide kommen in ein jesuitisches Waisenheim, dann in den Zirkus. Durch ein Wunder kann Juan Diego bei Adoptiveltern aufwachsen. Irving erzählt auf zwei Zeitschienen. Von Juan Diegos Kindheit erfahren wir durch Träume und Erinnerungen des 54-Jährigen.
Ihr Buch hat eine lange Entstehungszeit. Es begann in Indien.
Es war vor zwanzig Jahren nicht ein Roman, sondern ein Drehbuch (zwischendurch wirft John Irving Sätze in korrektem Deutsch ein.) Im Drehbuch ging es nur um die beiden Kinder. Eine Fotografin hatte mir Bilder von Kindern in indischen Zirkussen gezeigt. Sie, ein Filmer und ich lebten 1990 mit dem Royal Circus im Norden Indiens. Wir trafen viele dieser Kinder. Aber in Indien durften wir nicht drehen. In Mexiko lief das besser. Auch dort gibt es Kinder, die ohne Sicherheitsnetz im Zirkus auftreten. In Mexiko kam mir die Idee, vierzig Jahre anzufügen und einen Roman zu schreiben. So kann man sehen, wie sehr Juan Diegos Kindheit ihn beeinflusst. Filme sind gut für kurze Zeitspannen, Romane besser für solche, die sich über viele Jahren erstrecken.
Im Buch sagt Juan Diego, der Schriftsteller geworden ist, sein erstes Buch sei «eine durch die Jungfrau Maria in Gang gekommene Geschichte». Trifft das auch auf den ganzen Roman zu?
(legt die Löwenpranke auf das Buch) Diesen Roman?
Sie haben ja gesagt, die Jungfrau Maria sei die Heldin.
Nein . . . ich schaute diese Fotos von Kindern im Zirkus an und schloss meine Augen, um zu sehen, was passieren würde (der Löwe schliesst die Augen). Juan Diego, der seine Schwester verliert, Lupe, die stirbt, das war entscheidend. Dass Juan Diego einen Roman mit diesem Titel schreibt, ist richtig für ihn – für mich funktioniert das nicht.
Lupe ist eine wunderbare Figur. Sie hat Vorläufer in Ihren früheren Büchern. Aber Sie recherchieren ja sehr genau. Wie haben Sie für Lupe recherchiert?
Die «niños de la basura», die Müllkippenkinder, waren etwas vom Eindrücklichsten, was ich über die Jahre wiederholt in Mexiko gesehen habe. Es ist unvorstellbar, dass diese Arbeit heute noch gemacht wird. In den 1970er-Jahren war es schlimmer. Es gab keine Vorschriften, man konnte alles verbrennen. Für die Geschichte (grinst) ist es wichtig, weil (grinst weiter) diese Kinder alles verbrennen: ihre Mutter, den Gringo, Hunde . . . alles (lacht). Das Bild, das mir bleiben wird, ist, was diese Kinder ihr ganzes Leben tun: Über diese Müllberge klettern und nach Dingen schauen, die noch gebraucht werden können – es ist unmöglich, Zeit in einer Müllkippe zu verbringen, ohne zu sehen, wie viele Leute Bücher wegwerfen. Bücher sind nützlich dafür, das Feuer in Gang zu bringen (grinst). Niemand rettet Bücher.
Sie sprachen mit Kindern?
Ich wurde ihnen durch die Erwachsenen vorgestellt, die dort leben und sortieren, was die Kinder finden. Diese Leute leben in einer Gemeinschaft in der Nähe der Müllkippe, sie kennen einander, haben eine kleine Schule. Ihr Leben ist wie ein Pferd mit Scheuklappen – eine begrenzte Welt. Wenn das dein Leben ist und jemand dir den Zirkus zeigt, sagen die meisten Kinder: «Ich probiere das.» Dafür braucht es nicht viel Vorstellungskraft.
Erstaunlich bei Lupe ist, wie wissend sie ist…
Das mache ich aus einem anderen Grund. Ich weiss alles, was passiert, bevor ich schreibe . . .
. . . wissend und auch respektlos.
Wenn man meint, man wüsste alles, ist man respektlos. Besonders Kinder (lacht). Wenn ich einen Roman schreibe und weiss, was passieren wird, mache ich das manchmal – immer mit einer jungen Figur, die isoliert ist. Wenn ein Kind glaubt, es sehe die Zukunft, ist das für das Kind nicht ein Geschenk, es ist eine Last. Das Kind hat nicht genug Wissen, um die richtige Entscheidung zu treffen. Es ist eine Form, eine Figur in eine Situation zu bringen, in der sie etwas Beliebiges tun kann. Für das Kind ist es eine Albtraumformel.
Sie lassen Lupe im Löwenkäfig sterben – wie fühlt sich das für Sie an?
(grinst) Als ich den Roman schrieb, war Lupe schon 25 Jahre alt (grinst noch mehr). Ich wusste immer: Der Grund, warum sie in der Geschichte vorkam, war, dass sie sterben müsste. Ich versuche Figuren zu schaffen, die die Leser mögen, und dann lasse ich ihnen schreckliche Dinge widerfahren. So haben schon Shakespeare und Dickens Geschichten erzählt.
Lupe ist eine starke Figur. Sie ha- ben viele starke Frauenfiguren. Sehen Sie sich als Feministen?
Meine politischen Anliegen waren immer feministisch. Aber das Recht auf Abtreibung ist ein Menschenrecht: Gibt man Frauen das Recht auf Selbstbestimmung, oder schreibt man Frauen vor, ihre primäre Aufgabe sei Gebären? Meine Mutter war Feministin. Ich wurde früh mit feministischen Anliegen bekannt, aber sie spielen nicht in all meinen Romanen eine Rolle. Autoren sollten starke Figuren schaffen. Die Figuren sollten herausragen, unabhängig von ihrem Geschlecht. Wenn sie einen Hund in einem Roman haben, sollte der Hund eine starke Figur sein – wieso haben Sie sonst einen Hund?
Juan Diego sagt in dem Roman, er schreibe aus politischen Gründen explizit über Sex. Sie schreiben auch explizit über Sex – und Sie haben kürzlich zwei Auszeichnungen von LGBT-Organisationen bekommen. Was bedeuten sie Ihnen?
Ich mag die Gemeinschaft dieser Leute und habe sie immer unterstützt. In meinem Roman «Garp», den ich vor vierzig Jahren geschrieben habe, geht es um sexuellen Hass und Gewalt. Wir leben in einer Welt, in der Leute zur sexuellen Minderheit erklärt werden und einen Standard erfüllen sollen, der nicht der ihre ist – Frauen und Lesben, Gays, Bi- und Transgendermenschen.
Für wen schreiben Sie?
Ich versuche, an eine viel beschäftigte und beliebte junge Person zu denken, deren Handy die ganze Zeit klingelt und die viel Spass hat. Ich hoffe, diese Person nimmt ein Buch in die Hand und lässt sich von all den besseren Dingen, die sie tun könnte, nicht ablenken. Daher muss ich mein Buch so schlimm machen, wie ich kann. Und ich muss es so lustig machen, wie ich kann, bis es nicht mehr lustig ist. Wir leben in einer Welt, in der die Menschen immer mehr abgelenkt werden und sich immer weniger konzentrieren können.
Zum Abschied gibt man dem Löwen die Hand. Nein, keine Pranke – es ist ein überraschend weicher, kaum spürbarer Händedruck. Und war da nicht ein Lächeln? John Irving ist ein grossartiger Schriftsteller mit grossem Herzen – nur vielleicht nicht unbedingt für Journalisten.
Der Ringer unter den Literaten
John Irving wurde 1942 in Exeter, New Hampshire, geboren. Als er zwei Jahre alt war, verliess sein Vater seine Mutter, die daraufhin dessen Kontakt zum Sohn unterband. Erst mit knapp sechzig Jahren erfuhr Irving von seinen Halbgeschwistern. Irving war Ringer, 1992 wurde er in die National Wrestling Hall of Fame aufgenommen. Er studierte englische Literatur und verbrachte während des Studiums ein Jahr in Wien. Seinen ersten Roman publizierte Irving 1968, der Durchbruch gelang ihm mit «Garp und wie er die Welt sah» von 1982. Für das Drehbuch zu seinem Roman «Gottes Werk und Teufels Beitrag» erhielt er 2000 einen Oscar. Alle bisherigen Romane von Irving wurden Weltbestseller. Sein jüngster Roman «Strasse der Wunder» erschien diesen Frühling im Diogenes Verlag auf Deutsch.
publiziert in AZ Nordwestschweiz / AZ Medien am 31. Mai 2016. Bild © Everett Irving