Bukarest, Wien, Berlin oder Zürich: Kunst kennt keine Grenzen, sagt die rumänisch-schweizerische Autorin Dana Grigorcea. Mit Graf Dracula hält sie in ihrem dritten Roman «Die nicht sterben» der Welt den Spiegel vor
Sie war mit ihrem späteren Mann von Berlin nach Zürich gekommen, um einen Literaturpreis entgegenzunehmen, den er gewonnen hatte. Mit dem Preisgeld lud Perikles Monioudis seine Künstlerfreunde ein. Sie fuhren mit dem Schiff über den Zürichsee, zitierten Gedichte und tranken bei Sonnenuntergang Champagner. Siehst du, das ist Zürich, habe er ihr gesagt, erzählt Dana Grigorcea. Und sie darauf: Dann lass uns bleiben.
Wir sitzen vor der Oper auf dem Zürcher Sechseläutenplatz. Dana Grigorcea lacht, wie noch so oft in diesem Gespräch und breitet die Arme aus, als wolle sie die Welt umarmen. «Die grosszügige Geste macht den Künstler aus», sagt sie. Fortan bewegte sich das Paar im Dreieck von Kronenbar, Oper und See. Die beiden lebten vorübergehend in der Wohnung von Max Frischs zweiter Frau Marianne und Dana Grigorcea schrieb ihren ersten Roman am Schreibtisch, wo noch geheime Manuskripte von Frisch in einer Schublade schlummerten. Die Autorin ist in Bukarest aufgewachsen. Sie hat in Brüssel Film- und Theaterregie studiert, später in Wien Journalismus. Dann arbeitete sie beim französischen Fernsehsender arte, beim Wiener Kurier und bei der Deutschen Welle, jeweils hauptsächlich zu Film. Als die Kinder kamen, verlegte sie mit ihrem Mann ihren Lebensmittelpunkt endgültig nach Zürich. Sie sei gleich mit ihrem ersten Roman «Baba Rada» von 2011 als Schweizer Autorin angenommen worden, erzählt Grigorcea. Das sei eine Bestätigung gewesen: Kunst kennt keine Grenzen. «Fremd habe ich mich nur in einem globalen Sinn gefühlt: fremd in der Welt». Rumänien ist sie immer verbunden geblieben.
Ein Stein im dunklen Teich
Rumänien ist Schauplatz all ihrer Romane. Einzig die zwischengeschobene Novelle «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen» von 2018 spielt in Zürich. Und doch stimmt gewissermassen, was ein Kritiker zu dem Zürcher Buch geschrieben hat: Dana Grigorcea bewege sich mit ihrer Literatur immer weiter westwärts. Denn: Eine Urszene des jüngsten Romans stammt aus den USA. Auf einer Lesereise beobachtete die Autorin einen Mann, der für einen Hund Steine in einen Tümpel warf. Der Hund konnte die Steine nicht fassen. Die Leute um ihn herum jubelten: «Awesome, awesome». Sie jedoch warf dem Hund einen Stock, den er freudig apportierte. Die Szene fand Eingang ins neue Buch. Und: Auch im Motto, das dem Text vorangestellt ist, taucht ein Echo davon auf: «So weitet sich der unheimliche Kreis immer mehr, wie ein ins Wasser geworfener Stein immer grössere Wellenringe hervorruft», zitiert die Autorin aus Bram Stokers «Dracula». Dana Grigorcea sagt: «Ich habe den Stein aus dem dunklen Wasser geholt».
«Ich tat, als schliefe ich tief und sähe alles nur im Traum», schreibt Grigorcea in «Die nicht sterben», «auch den, der schliesslich zu mir kam als grün schimmernder Rauch, als starker, würziger Weihrauch, der nun das Zimmer anfüllte. An den Wänden vernahm ich ein Kriechen, das schnelle Aufziehen von Feuchtigkeit; in der Hitze der Sommernacht überzog es mich kalt und wieder heiss mit tausendfachem Stechen». Ja, ihr neuer Roman ist ein Dracula-Roman, vielleicht sogar der ultimative Dracula-Roman. Die Autorin verwebt darin Zitate aus den vielen Verfilmungen und Büchern. Und: Wie der Ire Bram Stoker im 19. Jahrhundert führt auch sie den Vampir mit der historischen Figur des transsilvanischen Fürsten Vlad der Pfähler zusammen. Es ist aber auch ein Roman über das kommunistische Rumänien unter der Diktatur von Nicolae Ceausescu. Und über die Zeit danach und neue Vampire. Und es ist ein Roman über die Kunst: Ihre Erzählerin ist eine Malerin, die das Schöne sucht, Bilder hinterfragt, und ihre Wahrnehmung auf ein Bild reduzieren kann.
Ein Stühlchen in der Oper
Die Kunst ist Thema in allen Büchern von Dana Grigorcea, auch in ihrem zweiten Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit», mit dem sie beim Wettlesen um den Bachmannpreis den dritten Preis gewonnen hat und 2015 für den Schweizer Buchpreis nominiert war. «Macht uns die Kunst zu besseren Menschen?», fragt sie im Untertitel ihres Essay-Bandes «Über Empathie». Das Buch ist im Kleinverlag Telegramme erschienen, den sie mit ihrem Mann seit zwei Jahren führt und der quasi organisch aus ihrem Künstlernetz gewachsen ist. Sie habe noch keine Antwort gefunden, sagt die Autorin. «Ich will glauben, dass man über die Kunst mit einem eigenen Ausdruck zum Kern der Welt und zur Liebe vordringt». Sie selbst hat durch ihren neuen Roman gelernt, die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist, neu zu sehen. Es war eine grossbürgerliche Klassengesellschaft. Im Roman zeichnet sie diese Menschen, wie sie in einer geschlossenen Welt einander ihre kulturellen Codes zuwerfen: Referenzen aus Literatur, Musik oder Malerei. Das Elend der armen Leute sehen sie nicht. Dana Grigorcea will Kultur allen zugänglich halten. «Literatur und Kunst gehören ins Zentrum der Gesellschaft», sagt sie. Selbst wenn die Zeichen der Zeit in eine andere Richtung zu weisen scheinen: «Die selbstbewusste Behauptung ermöglicht Kunst.»
Dana Grigorcea scheint Kunst und Kultur wie ein Parfüm zu tragen, das sie gerne mit anderen teilt. Doch sie sagt: «Es ist ein grosser Entscheid, Künstlerin zu sein und davon zu leben.» Kunst verlange Demut. In Bukarest ist mit Blick auf die Oper aufgewachsen und ging dort in die Ballettstunde. Einmal erwischte sie die falsche Tür. Von da an schlich sie sich regelmässig in die Zwischenbühne und beobachtete, wie sich die Künstler im Bühnenlicht in ihr bestes Selbst verwandelten. Eines Tages stand dort ein Stühlchen.
Eine Einladung in einen Raum
«Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben, das kann nur Licht»: Dana Grigorcea hat lange überlegt, ob sie dieses Zitat von Martin Luther King anstelle des Auszugs aus Bram Stokers «Dracula»-Roman ihrem Text voranstellen solle. Und so zeigt sich die politische Dimension des Buches. Susanne Krones, ihre Lektorin beim deutschen Penguin Verlag, zu dem sie mit diesem Roman gewechselt hat, sagt: Schon bei der ersten Textprobe habe es sie tief beeindruckt, mit welcher Kühnheit Dana Grigorcea zu einer ganz grossen Metapher greift, indem sie den Dracula-Mythos neu belebt. «Wie daraus mit Augenzwinkern, Humor und grosser Sinnlichkeit ein Roman über eine ganze Generation entsteht und über die toxische Sehnsucht nach der starken Hand, die unser freies Europa derzeit so sehr gefährdet, das ist einzigartig.»
Auf dieser Ebene handelt der Roman von längst überwunden geglaubtem Nationalismus und Chauvinismus. Von der morbiden Lust der Menschen, Macht abzugeben und sich selbst auf der sicheren Seite zu wähnen. Und von der Selbstgerechtigkeit und dem rachesüchtigen Ton, der sich auf der ganzen Welt beobachten lässt. Das ist Literatur: Eine grosszügige Einladung in einen Raum und die Möglichkeit, sich selbst auf verschiedenen Ebenen neu zu erfahren.
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Sie ist eine Malerin, die in Paris studiert hat. Nun kommt die Erzählerin zurück in den Ort B. am Fuss der Karpaten, wo ihre Grosstante Mamargot mit Familie und Freunden während der Diktatur jeweils die Sommermonate in einer enteigneten Villa verbracht hat. Der Schrecken des Kommunismus ist vorbei, doch der Müll dieser Zeit lagert noch im Keller. Der Bürgermeister will einen Dracula-Park bauen, um Gelder in die eigene Tasche abzuzweigen. Und plötzlich kriecht Dracula aus einem Grab in der Familiengruft. Ist es nur Traum oder ist es wirklich passiert? Nachts spürt die Erzählerin unheimliche Kräfte in sich wachsen. Als Vampirella fliegt sie im Mondschein über das Land und hetzt den Sohn des Bürgermeisters beim Tennismatch über den Platz.
Es sind betörende Bilder, die Dana Grigorcea in ihrem dritten Roman «Die nicht sterben» heraufbeschwört. Sie schreibt mit grosser erzählerischer Kraft, Witz und souveräner Dramaturgie. Teich, Selbstbildnis oder Spiegel: Mit leichten Verschiebungen wiederkehrende Motive durchwirken den Text und bringen sich wechselseitig zum Leuchten. Da ist Schauer und Tiefsinn, Politik und Poesie: ein grosses Lesevergnügen.
Dana Grigorcea: «Die nicht sterben», Penguin, 272 Seiten
publiziert in der Serie «Schweizer Schreibwelten» auf swissinfo.ch am 7. April 2020, Foto ©Thomas Kern/swissinfo.ch