Blitzgescheit und voller Witz und Wärme: In ihrem Debütroman «Identitti» dreht die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal auf jeder Seite die glitternden Konzepte der Identitätspolitik weiter
Der Satz, mit dem Saraswati, Professorin für Postcolonial Studies, ihr Seminar eröffnet, ist ein Hammer: «Okay, erst einmal alle Weissen raus.» Bleiben dürfen die Students of Color – oder die, die sich von dem Begriff angesprochen fühlen.
Es ist, als würden sich tektonische Platten verschieben: «Berge erhoben sich, wo vorher leere Flächen gewesen waren, die Erde barst auf und etwas brach von Niveditas Kontinent ab und trieb hinaus in die See der möglichen Optionen», schreibt Mithu Sanyal in ihrem Debütroman «Identitti». Nivedita ist die Protagonistin, sie ist das Kind eines indischen Vaters und einer deutschen Mutter mit polnischen Wurzeln, in Düsseldorf aufgewachsen, und studiert Intercultural Studies und Postkoloniale Theorie.
Nivedita bleibt. Bisher hat sie Weissen gegenüber immer versucht, als Weisse durchzugehen, jetzt aber sagt sie zu ihrer deutschen Freundin Lotte: «Ich bin nicht weiss.» Unbedingt möchte Nivedita an dem Seminar über die Göttin Kali teilnehmen. Denn Bilder dieser Göttin mit blauschwarzer Haut, einem Rock aus abgerissenen Armen ihrer Feinde und einer Kette aus Männerköpfen um den Hals hingen in der Wohnung ihrer Eltern. Als sie Saraswatis Studentin wird, passiert etwas Wunderbares. Ihr Selbstbewusstsein wächst, sie nimmt sich als Person mit Vergangenheit wahr und damit auch mit einer Zukunft: «Sie war keine Abwesenheit mehr, kein unbeschriebenes Blatt, wo Kindheit und Jugend in einer deutsch-deutschen Familie sein sollten. Sie war plötzlich Anekdoten und Erinnerungen und Körpergedächtnis, weil ihre Anekdoten und Erinnerungen plötzlich Bedeutung erhielten. Und erst ihr Körpergedächtnis!»
Blackfacing und Shitstorm
So weit, so gut. Empowerment eben. Doch dann fangen die Probleme an. Plötzlich nämlich heisst es, Saraswati sei in Wahrheit weiss, habe biodeutsche Eltern, und ihr wirklicher Name sei Sarah V. T., Sarah Vera Thielmann. Die Schlagzeilen in den Medien überbieten sich: «Blackfacing Scandal at German University» titelt die britische Zeitung «The Independent», «Saraswati in truth SarasWHITEy» die «Washington Post»; in den sozialen Medien bricht ein Shitstorm los. Das Schlimmste jedoch: Nivedita, die unterdessen wahlweise unter den Namen Mixed-Race Wonder-Women oder Identitti einen Blog schreibt, hatte am Morgen ein Interview gegeben. Dieses wird erst nach Saraswatis Debunking ausgestrahlt und erscheint nun in neuem Licht: Es sieht aus, als wolle sie die Professorin verteidigen. Willkommen im Reich der identitätspolitischen Verwerfungen.
Es ist das Terrain, in dem sich Mithu Sanyal bestens auskennt. Die 49-Jährige ist Kulturwissenschaftlerin, unterrichtet und publiziert auf unterschiedlichsten Kanälen; unter anderem schrieb sie bis 2020 eine Kolumne mit dem Titel «Mithulogie» in der «taz». Wie ihre Figur Nivedita ist sie in Düsseldorf aufgewachsen und hat polnisch-indische Wurzeln. Bekannt wurde sie 2009 mit dem Sachbuch «Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts», einem Pioniertext. Das Buch geht auf ihre Doktorarbeit zurück. Sanyal rekonstruiert darin die kulturelle Bedeutung des weiblichen Genitals und zeichnet nach, welche Anstrengungen im Kampf um die Definitionsgewalt über den weiblichen Körper auf der symbolischen Ebene unternommen wurden. Der immer noch gebräuchlichste Begriff anstelle von Vulva zeugt davon: «Die Vagina ist von aussen betrachtet bloss ein Loch», sagte Sanyal in einem Interview. «Das ist etwa so, wie wenn Sie das Ohr eines Mannes als ‹Organ, das der Ehefrau zuhört› bezeichnen würden.»
Wie Sanyal vielen Frauen hat Saraswati ihren Studierenden eine Sprache gegeben, mit der sich diese nun gegen sie wenden. Was Saraswati getan habe, sei racial capitalism, die Ausbeutung von race als Ware, ihr Verhalten festige White Supremacy, die Vorherrschaft der Weissen. Interessant dabei: Das neue Vokabular der woken Millennials ist aus den USA importiert, der Hochburg des Imperialismus. Und: Die frühere Kolonialsprache Englisch erscheint ihnen wahrer als Deutsch. Das sind die Widersprüche des identitätspolitischen Diskurses, wie sie auch in Ausdrücken wie LGBT+ oder BIPoC zum Ausdruck kommen. Mit steter Regelmässigkeit werden diese Kürzel mit zusätzlichen Initialen erweitert, um neben Lesbian, Gay, Bisexual und Trans oder Black, Indigenous und People of Color eine weitere marginalisierte Gruppe einzuschliessen, derweil im selben Moment eine Abgrenzung gezogen wird.
Diskriminierungsneid
Was also tun, wenn eine weisse, privilegierte Person sich als PoC ausgibt? Für diese Frage gibt es eine reale Vorlage: die US-amerikanische Kulturwissenschaftlerin und Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal, die 2015 nach Bekanntwerden ihres passing unter umgekehrten Vorzeichen – als Weisse gab sie sich als Schwarze aus – ihre öffentlichen Posten verloren hat. Mithu Sanyals «Identitti» müsste man als Theorieroman bezeichnen, würde das abschreckende Wort dem Witz und Scharfsinn des mit popkulturellem Zwinkern gespickten Textes gerecht. Ähnlich wie Siri Hustvedt in «Die gleissende Welt» die Gendertheorie, inszeniert Sanyal in ihrem Roman postkoloniales Denken, wenn sie mit ihrem Personal die theoretischen Ideen herumwirbelt.
Alle ihre Figuren nehmen in diesem diskursiven Geflecht eine präzise Position ein, doch dann verschiebt die Autorin lustvoll die Regler: Kontext oder Perspektive ändern sich, und damit ändert sich alles. So gehörte Niveditas indische Cousine Priti in Birmingham einer diskriminierten Community an, um die Nivedita sie beneidet. Sie selbst hat mit ihren indischen Wurzeln in Deutschland den Joker unter den Migrationskarten gezogen, doch in der Gemeinschaft von Saraswatis Studierenden, in der PoCness zum Asset wird, ist Oluchi mit ihren nigerianischen Wurzeln der Star. Auch in ihrem Liebesleben klopft Nivedita die Wechselwirkungen der «50 shades of beige» ab. Und: Saraswatis Vorschlag, Whiteness als kulturelle Konstruktion zu denken, und ihre Idee einer transracial identity werden empört zurückgewiesen, derweil vergleichbare Vorstellungen im Genderkontext entschieden verteidigt und beschützt werden. Identität ist keine stabile Kategorie.
Gedanken mit Augen
Von Seite zu Seite dreht Mithu Sanyal die glitternden Konzepte der Identitätspolitik weiter. Da wird nicht nur LeserInnen schwindlig. Auch Nivedita spürt den «Taumel, den Gespräche mit Saraswati in schöner Regelmässigkeit verursachten, wenn sich alle Gewissheiten auflösten und jeder Gedanke Augen bekam und zurückschaute». So ist es nichts als konsequent, ist der Roman durch und durch als Gespräch angelegt, in dem Polaritäten auf verschiedenen Ebenen verhandelt werden: im Shitstorm, für den Mithu Sanyal Twitter-Kommentare von realen Personen einforderte und so die Realität in ihren Roman eingeflochten hat. Oder auch in Niveditas Blog, in dem diese ihre Dialoge mit der Göttin Kali aufzeichnet. Ja, die scheinbar zerstörerische Göttin mit der Kette aus Männerköpfen um den Hals. Sie hatte bereits in Sanyals Buch «Vulva» einen Auftritt.
Kali ist es schliesslich, die zuletzt eine Zeremonie anführt: Auf einem Düsseldorfer Friedhof, mit einer weggeworfenen Bierflasche in der Hand, rezitiert sie ein Gedicht von Dylan Thomas. Ist das nun Cultural Appropriation, Respekt, Empathie, Liebe oder was?
Identität und Solidarität sind die beiden Pole, die unser Zusammenleben künftig mehr denn je bestimmen dürften. Mithu Sanyal hat einen fulminanten Roman dazu geschrieben, wie einfach und kompliziert das ist. Blitzgescheit und mit poppigem Glanz.
Mithu Sanyal: Identitti, Roman. Hanser, 432 Seiten.
publiziert in WOZ, 18. Februar 2021; Bild © Guido Schiefer