Tequila Leila, Adelaida und Klein Khandan nehmen uns mit in das Istanbul des beginnenden 20. Jahrhunderts, ins heutige Caracas und in den kurdischen Norden Iraks. Die Figuren eröffnen Zugang zu Welten, die den meisten von uns ausserhalb von Büchern verwehrt bleiben. Aber was zunächst fremd scheint, entpuppt sich als vertrauter als angenommen. Fremde Probleme, von denen wir uns in Zeitungsartikeln gut distanzieren können, erwecken in eine Geschichte verpackt Empathie und Verständnis – im Kleinen wie im Grossen, nah oder fern
Die Gerüche des Lebens
von Mirjam Strässle
Zehn Minuten und dreissig Sekunden: So viel Zeit bleibt Tequila Leila in Elif Shafaks Roman «Unerhörte Stimmen», um ihr Leben nochmals durchzugehen. Sie liegt in einer Mülltonne in Istanbul — ermordet.
Tequila Leila ist ein Exempel dafür, die Dinge nicht immer sind, wie sie scheinen. Für ihre fünf Freunde war Leila der Kern, der sie zusammenhielt. Sabotage Sinan, der Jugendfreund. Nostalgie Nalan, die Transfrau. Zaynab122, die kleinwüchsige Wahrsagerin. Hollywood Humeyra, geflohene Ehefrau und Sängerin. Und Jamila, die Frau, «die den Menschen in die Seele schaute und ihnen erst, wenn sie alles darin gesehen hatte, ihr Herz öffnete». Fünf Freunde, die genauso wie Tequila Leila nicht in die Gesellschaft passten. «Auf sich allein gestellt war jeder verwundbar; gemeinsam waren sie viel stärker», heisst es über sie im Roman.
Magischer Orient oder knallharte Realität?
Leila denkt an Baklava und Pistazien, der Geruch einer Kindheit, in der die Leichtigkeit nie Platz gefunden hatte. Sie denkt an den Geruch von schwarzem Kardamonkaffee, den Tequila Leila für «alle Zeiten mit der Strasse der Bordelle verband». Von zu Hause abgehauen, alleine und ohne Geld in Istanbul. Von einem Mann hinters Licht geführt und dann als Sexarbeiterin verkauft. Der Geruch von Schwefelsäure, der Leila daran erinnert, dass ein Freier sie im Bordell mit ätzender Säure übergossen hat. Pralinen mit verschiedenen Füllungen — Karamell, Kirsche, Nougat —, die Erinnerungen wecken an D/Ali, den Studenten und Revolutionär, den Mann, den Leila heiratete. Single Malt Whiskey — das Letzte, was Leila zu sich nehmen würde.
Andere Normalitäten
Mit Tequila Leila zeigt Elif Shafak eine Realität, die uns auf den ersten Blick fremd erscheint, auf den zweiten Blick jedoch gar nicht mehr so verschieden ist von derjenigen, in der wir leben.
Elif Shafak: «Unerhörte Stimmen»
aus dem Englischen von von Michaela Grabinger, Kein & Aber, 344 Seiten
Eine Nacht die nicht enden will
von Elodie Kolb
«Beim Aufsetzen ihrer Grabinschrift begriff ich, dass sich der Tod als Erstes in der Sprache vollzieht»: Adelaida Falcón begräbt ihre Mutter auf La Guairita, einem Friedhof in Caracas, Venezuela. Es ist ein kurzes Begräbnis, nur sehr wenige Freunde erscheinen, sind auch schnell wieder weg. Der Grund dafür zeigt sich Adelaida auf der Rückfahrt: Das Taxi in dem sie sitzt, entkommt nur knapp den berüchtigten «Bikern des Vaterlands», welchen man in Caracas nicht begegnen möchte. Als ihre Wohnung von einer Gruppe Frauen geplündert wird, bricht für sie alles zusammen: Sie hat kein Geld, Bolívares werden nicht einmal mehr auf dem Schwarzmarkt angenommen, sie hat kein Dach mehr über dem Kopf und ist mutterseelenallein. Eine Situation, in welcher sich viele in Venezuela wiederfinden.
Karina Sainz Borgo zeigt mit ihrem Debüt nicht nur, wie weit Menschen in einer hoffnungslosen Lage gehen können, sondern auch die Schuldgefühle, welche mit dem Überleben einhergehen.
Andere Normalitäten – magisches Südamerika oder knallharte Realität?
Das Venezuela des 21. Jahrhunderts zwischen Hugo Chávez und Nicolas Maduro ähnelt einem Schlachtfeld. Adelaida ist nur eine der vielen, die dem Regime zum Opfer fallen und in Furcht und Argwohn leben. Für uns Ausnahmezustand, ist diese Situation in Venezuela bereits zu einer neuen Normalität geworden: «Ich hörte Schüsse. Wie am Vortag und am Tag davor und am Tag vor dem Tag davor», sagt Adelaida im Roman.
Karina Sainz Borgo: «Nacht in Caracas»
aus dem Spanischen von Susanne Lange, S. Fischer Verlag, 220 Seiten
Geschichten gegen das Vergessen
von Hevin Karakurt
Perwana will weg. Weg aus der Stadt, weg von Vater und Brüdern. Sie will frei leben. Wir befinden uns im kurdischen Nordirak, zu einer unbestimmten Zeit an unbestimmtem Ort. Das ganze Land ist geplagt von politischen Unruhen und blutigen Gefechten. Deshalb flieht sie in das Tal der Verliebten. Ihre kleine Schwester Khandan muss für Perwanas Sünden büssen und besucht eine religiöse Schule, deren Lehren für sie keinen Sinn ergeben. Sinn findet sie letztlich nur im Aufschreiben von Perwanas Geschichte.
«Perwanas Abend» erzählt von Liebe, Leben und Trauer. Von Familie, Politik und Krieg. Alles hängt zusammen, wenn es um ein Menschenleben geht. Erzählen als Erinnerung, Verarbeitung und Zuflucht ist der Ursprung so vieler Literatur verschiedenster Zeiten und Orte. Nichts, wie Khandan richtig erkennt, «ist bewegender als das Schicksal eines Menschen». An Perwanas Schicksal Anteil zu nehmen regt zum Nachdenken über Gott und die Welt und den eigenen Platz in ihr an.
Andere Normalitäten
Was auf den ersten Blick fremd scheint, ist es nicht wirklich. Die Realität der Schwestern ist eine andere als unsere, aber Bachtyar Ali zeigt, dass die fundamentalen Fragen, Freuden und Ängste der Menschen dieselben sind. Bis hin zu den grossen philosophischen Fragen: Warum gibt es einen Gott, «der das Universum so überreich ausstaffiert», aber «blutige Strafen für schlichte menschliche Sehnsüchte ersonnen hatte»?
Magischer Ort oder knallharte Realität?
Beides. Wie in einem Märchen aus 1001 Nacht begleiten Schmetterlinge Perwana auf magische Weise seit ihrer Kindheit. Sie folgen ihr aber auch bis in den Tod. Magie und Realität treffen sich hier in aller Härte.
Bachtyar Ali: «Perwanas Abend»
aus dem Kurdischen (Sorani) von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim, Unionsverlag, 288 Seiten