Vor Jahresfrist zirkulierte ihr Manuskript in deutschen Verlagen, dieses Jahr soll das Buch in ausländische Märkte wandern. Ein Treffen an der Frankfurter Buchmesse mit Gianna Molinari, deren Debüt für den Schweizer Buchpreis nominiert ist
Da ist zum Beispiel der Spaten. Das Wort kommt in Gianna Molinaris Roman «Hier ist noch alles möglich» vor. Aber wie sieht dieses Werkzeug aus? Ist es rund, eckig, spitzförmig? Im Niederländischen gibt es dafür verschiedene Wörter. Deswegen fragt Gerrit Bussink bei Gianna Molinari nach. Er hat ihr Buch schon fast fertig ins Niederländische übersetzt und arbeitet noch am letzten Schliff. Und weil beide an der Frankfurter Buchmesse sind, haben sie sich dort getroffen. «Wir haben uns zweimal zusammengesetzt und ganz nah am Text gearbeitet», erzählt Molinari. In einer Passage in Molinaris Buch kommt beispielsweise das zackige, einsilbige Wort «Zaun» vor, das niederländische Wort für «Zaun» hat aber drei Silben. Würde Gerrit Bussink jedes Mal dieses dreisilbige Wort setzen, wäre das zu dominant und der Rhythmus der Sprache ein anderer.
Und dann sind dem Übersetzer zwei Lieblingswörter in Molinaris Text aufgefallen: «hier» und «vielleicht». Ist das eine bewusste Wahl? Die Wörter passen exakt zu den zentralen Themen des Buches: die verlassene Fabrik, wo die Geschichte spielt, und die Möglichkeitsräume, die Molinaris Erzählerin gedanklich erkundet. «Es ist wunderschön, dass jemand den Text so aufmerksam liest und sich so tief in die Sprache und in die Welt des Romans hineinbegibt», sagt Gianna Molinari. Gefallen hat ihr auch das Buch, das der Übersetzer mitgebracht hat: «sein Buch – also mein Buch – mein Buch mit seinen Notizen», sagt sie und führt mit diesem suchenden Satz ziemlich genau das vor, was beim Übersetzen mit dem Original passiert.
Es ist eine schöne Fügung, dass sich die Autorin mit ihrem niederländischen Übersetzer an der Messe treffen kann. In Frankfurt ist Gianna Molinari eigentlich wegen der PR-Arbeit für den deutschen Roman. Sie hat Lesungen auf dem Messegelände oder in der Stadt und gibt Interviews – ein Live-Interview für Radio Bremen beispielsweise, oder ein Gespräch auf der Bühne der «FAZ».
Im Hintergrund läuft die zweite wichtige Schiene der Messe: der Rechtehandel. Vor Jahresfrist war ihr damals noch nicht publiziertes Manuskript bei den deutschen Verlagen in Umlauf. Rund ein halbes Dutzend hatten sich dafür interessiert, bis es eine Auktion gab und schliesslich der deutsche Aufbau Verlag den Zuschlag bekam. Dieses Jahr nun will der Verlag die Lizenzrechte ins Ausland verkaufen.
Inka Ihmels ist Foreign Rights Managerin beim Aufbau Verlag. Während der Buchmesse trifft sie sich in der Regel von Dienstag bis Samstag im Halbstundentakt mit ausländischen Verlegern, Lektoren, Agenten und Multiplikatoren. Natürlich geht es dabei nicht nur um Gianna Molinaris Debüt. Aber sie ist ein grosser Fan von dem Buch, auch persönlich liegt es ihr am Herzen. Der Roman hat eine «gute Aussteuerkiste», sagt sie. Er ist von der Presse sehr gut aufgenommen worden und bringt eine Reihe von Preisen mit, angefangen beim 3Sat-Preis für einen Auszug beim Wettlesen um den Bachmannpreis 2017 über den Robert-Walser-Preis bis zur Longlist für den Deutschen Buchpreis und jüngst die Nomination für den Schweizer Buchpreis, zudem wird es von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia zur Übersetzung empfohlen.
Der Funke muss springen
«In der Messearbeit ist es wichtig, den Autor schmackhaft zu machen», erklärt Inka Ihmels, «der Funke muss überspringen». Bei den Auslandverlagen sprechen die Leute nicht unbedingt Deutsch. «Man muss erreichen, dass sie eine Erstinvestition tätigen und ein Gutachten in Auftrag geben.» Für Gianna Molinari hat Aufbau eine englische Probeübersetzung von rund 18 Seiten anfertigen lassen. Dass ihr Buch ein Debüt ist, darin sieht Ihmels keine Schwierigkeit, im Gegenteil: «Ein Debütant ist ein Versprechen für die Zukunft, das ist gerade das Schöne», sagt sie. Auch nicht in den Fotografien und Skizzen, die im Buch mit dem Text in Dialog treten – weil sie schwarz-weiss sind, erhöhen sie die Druckkosten nicht, sind hingegen «ein gewisses Extra».
Wegen des Flüchtlingsthemas, das im Buch mitschwingt, sei es jedoch nicht leicht, das Buch nach Osteuropa weiterzureichen. Und dass der Text vor allem in der Gedankenwelt der Erzählerin spielt, mache es auch eher schwierig. Wichtig ist aber nicht nur, die Übersetzungslizenz zu verkaufen, sondern einen Verlag zu finden, in dessen Profil das Buch passt und der sich für das Buch engagiert. «Ich kenne meine Pappenheimer», sagt Inka Ihmels – die richtigen Kontakte, das Netzwerk ist zentral.
Die Lizenzrechte für die niederländische Übersetzung wurden ausserhalb der Messe verkauft und gingen bereits sehr früh an den Verlag Wereldbibliotheek in Amsterdam. Verleger Koen van Gulik besucht jeweils Anfang Jahr Verlage in Deutschland und Italien. Seine Geschäfte macht er lieber auf diesen Reisen als an der Messe, da sei es ruhiger, sagt er. Zudem dürften die Preise für die Lizenzen so früh im Jahr tiefer sein. Van Gulik spricht Deutsch, das ist ein grosser Vorteil. So konnte er Molinaris Text im Original lesen. Ihm hat die Sprache sofort gefallen: «Sie ist kalt und warm, poetisch und faktisch zugleich», sagt er. Und der Roman gehe sehr originell mit Fremdheit und Identität um und mit dem Wunsch, irgendwo dazuzugehören.
Auch eine zweite Lizenz wurde bereits vor Erscheinen des deutschen Originals vergeben. Dieser Abschluss kam über eine Agentur zustande, die in Frankreich die Rechte von Aufbau vertritt. Die Agentin wusste, dass Emmanuelle Heurtebize von der Verlagsgruppe Delcourt ein neues literarisches Programm aufbaut und neue Stimmen sucht. Der Funke sprang über: «Die Beschreibung von Gianna Molinaris Roman hat mich sofort gepackt», erzählt die Programmleiterin, «ich vermutete eine aussergewöhnliche und sehr besondere Welt». Hinzu kam die Empfehlung von Gianna Molinaris Mentor Saša Stanišić im Verlagsprospekt, von dem sie bereits Bücher publiziert hatte. Die englische Probeübersetzung gab ihr einen ersten Eindruck, dann aber bat sie ihre Übersetzerin Françoise Toraille um eine Einschätzung und erwarb schliesslich die Rechte. Neben Delcourt hatte es in Frankreich einen weiteren Interessenten gegeben.
Molinaris Roman hat Françoise Toraille gleich fasziniert. Das sei wichtig, sagt sie, weil es die Lust auf eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Text weckt. Sie steht noch ganz am Anfang ihrer Übersetzung. Nach der schnell erstellten Rohfassung folge die eigentliche Arbeit, erklärt sie: das Durchlesen, Korrigieren, Ändern und Feilen.
Später wird es ihr sehr wichtig sein, die Autorin persönlich kennen zu lernen. «Ich werde Gianna Molinari zu gewissen Punkten fragen, mich bei ihr vergewissern, dass ich sie bei einzelnen Stellen richtig verstanden habe.» Schon jetzt aber weiss Françoise Toraille: «Die Herausforderung besteht für mich in der scheinbaren Einfachheit der Sprache, die in der französischen Übersetzung sicher eine ganz besondere Aufmerksamkeit verlangen wird, um nicht plump oder einfältig zu klingen. Und die extreme Dichte der Erzählung.» Und vielleicht wird sie Molinari auch nach dem genauen Aussehen des Spatens fragen.
Kuratierte Auswahl und Förderbeiträge: So unterstützt die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia Übersetzungen in der ganzen Welt
Es hätte ganz anders sein sollen, Thomas Hürlimanns Lektor ist sehr betroffen. Dem Autor geht es nicht gut, der Lektor steht mit dessen Schwester und dessen Lebensgefährtin in Kontakt. Thomas Hürlimann hätte an die Messe kommen sollen. Ebenso wie zu allen anderen längst aufgegleisten Terminen, um mit «Heimkehr», seinem Lebensbuch, in die Öffentlichkeit zu gehen. «Zwanzig Jahre hat er daran gearbeitet», betont Jürgen Hosemann. Er habe seine Bücher «Fräulein Stark» und «Vierzig Rosen» dazwischengeschoben und sei wie auf einer kreisförmigen Bahn immer wieder zu dem Text zurückgekehrt. «Zuletzt wurde ich von Thomas Hürlimann engagiert, um mit ihm das Buch fertigzustellen», sagt Hosemann. Ein Abgabedatum für das Manuskript wurde vereinbart. «Doch nun kann Thomas Hürlimann den Erfolg nicht auskosten.» Für den Verlag heisst es aber auch, dass er sein Buch schlecht bewerben kann – Lesungen fallen aus, Gesprächsrunden und Interviewtermine sind derzeit nicht möglich.
Der Lektor ist spontan beim Messegespräch zwischen Myriam Alfano, Foreign Rights Managerin beim S. Fischerverlag und Angelika Salvisberg, Leiterin des Förderbereichs Literatur bei Pro Helvetia dazugekommen. Es geht darum, wie Übersetzungen in andere Buchmärkte in die Wege geleitet werden können und welche Unterstützung Pro Helvetia bietet. Zwölf Jahre sind seit Thomas Hürlimanns letztem Roman vergangen. Für die ausländischen Märkte ist das eine lange Zeit. Deshalb hat Pro Helvetia den etablierten Autor in ihre Publikation «12 Swiss Books» aufgenommen. Anders als bei Autoren mit regelmässiger Produktion und treuen Lizenznehmern wie etwa Peter Stamm, ist bei Hürlimann ein Extraschub sinnvoll.
Ganzes Werk vermitteln
Sie würden alle ehemaligen Lizenznehmer überprüfen, erklärt Myriam Alfano: Haben diese ausländischen Verlage noch das passende Profil? Wäre Thomas Hürlimanns Buch in der Übersetzung dort gut aufgehoben? Würde der Autor vom Verlag getragen, gibt es ein Commitment? Bei neuen Lizenznehmern müsse man zudem die Chronologie beachten. «‹Heimkehr› ist ein Spätwerk, das Buch ist umfangreich, und es ist ein Text, der mit einer Kenntnis der früheren Werke Hürlimanns mit grösserem Gewinn zu lesen ist», sagt sie. Aus verlagspolitischen Gründen wäre es besser, mit einem früheren Werk wie «Fräulein Stark» in einen neuen Markt einzusteigen. Ziel ist es, nicht nur einen einzelnen Titel, sondern Autoren mit ihrem ganzen Werk zu vermitteln.
Pro Helvetia unterstützt Übersetzungen, indem sie die Übersetzungshonorare zu landesüblichen Tarifen übernimmt. Die Schweizer Kulturstiftung fördert auch bereits Probeübersetzungen und Gutachten. Da greift die Publikation «12 Swiss Books» vor. Die Broschüre präsentiert zwölf ausgewählte Neuerscheinungen auf Englisch – neben Thomas Hürlimanns «Heimkehr» auch Gianna Molinaris «Hier ist noch alles möglich» oder «Louis oder der Ritt auf der Schildkröte» von Michael Hugentobler. Junge englische Übersetzer haben eine Probeübersetzung angefertigt und geben eine Einschätzung von besonderen Herausforderungen – bei Hürlimann etwa die beunruhigte, orientierungslose Stimme der Hauptfigur. «Wir würden auch eine Probeübersetzung in einer anderen Sprache unterstützen», erklärt Angelika Salvisberg im Messegespräch beim S. Fischerverlag und schlägt Spanisch oder Französisch vor.
Doch warum braucht es überhaupt Übersetzungen? Zum Grundauftrag von Pro Helvetia gehört es, Schweizer Kultur auch im Ausland sichtbar zu machen, dafür wendet die Stiftung rund 60 Prozent ihres Budgets auf. Wenig anders als etwa im Sport geht es darum, wahrgenommen zu werden, wobei die internationale Anerkennung häufig Rückwirkungen in die Schweiz hat. Und: «Es wäre eine unglaubliche Verarmung, wenn alle nur noch lesen könnten, was in der eigenen Sprache geschrieben würde», betont Angelika Salvisberg. So machen Übersetzungen einen Austausch erst möglich und lassen Literaturschaffende am internationalen Geschehen teilnehmen. Nicht zuletzt sind sie damit ein Beitrag für eine offene Gesellschaft.
Dieser Text wurde von der SDA und der Gottlieb-und-Hans-Vogt-Stiftung für Medienförderung ermöglicht. publiziert in AZ Nordwestschweiz / AZ Medien am 15. Oktober 2018. Bild © Frank Rumpenhorst/DPA/Key