Die Wurzeln des Rassismus in Europa sind tiefer, als fast allen bewusst ist. Mit seinem Buch «Afropäisch» gibt der Brite Johny Pitts die europäische Antwort auf die amerikanische «Black Lives Matter»-Bewegung
Von der Rue de Rivoli zieht er weiter zu den Champs-Élysées und stösst dort auf eine Gruppe gut angezogener schwarzer Männer und Frauen. Die rund 500 Demonstrierenden stehen vor dem Parfümgeschäft von Guerlain und rufen zum Boykott auf. Zuvor hatte der berühmte französische Parfümeur Jean-Paul Guerlain in einem Radio-Interview gesagt, er habe für sein neues Parfüm geschuftet «comme un nègre», und angefügt, er wisse nicht, «ob die jemals so hart geschuftet haben». Später versuchte er sich zu rechtfertigen: «Den Satz habe ich in meiner Kindheit immer gehört. Ich gehöre zu einer anderen Generation.»
Die guten alten Zeiten, als man rassistisch sein durfte, sind vorbei: Das zeigen die Demonstrantinnen, indem sie sich gegen den Repräsentanten der alten Ordnung zusammentun und auf die Strasse stellen. An diesem Pariser Oktobertag im Jahr 2010 sieht Johny Pitts in den Demonstranten zum ersten Mal das aufscheinen, was er zu finden gehofft hat: Menschen, die europäisch und «schwarz» sind, dem Mittelstand angehören und für ein positives Zusammenspiel der Kulturen stehen. Er sieht seine Utopie von «Afropa» aufblitzen, eine «neue Konfiguration von Ideen, mit Afrika und Europa verknüpft, aber beide transzendierend».
Zehn Jahre lang hatte der frühere britische Musikjournalist und Fernsehmoderator Pitts gespart, um seine Reise machen zu können: eine fünfmonatige Recherche per Interrail durch die europäischen Städte auf der Suche nach der schwarzen Diaspora im europäischen Alltag. Daraus ist sein Buch «Afropean» entstanden, das im englischen Original 2019 herauskam und nun in deutscher Übersetzung erscheint.
Das Buch kommt genau zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt. Durch den gewaltsamen Tod von George Floyd und die Verbreitung des Tatvideos auf Social Media haben die Anliegen der «Black Lives Matter»-Bewegung weit über die USA hinaus überwältigende Resonanz erfahren. Auch in Europa ist in der Folge die Diskussion über Rassismus und das koloniale Erbe neu entbrannt. Pitts’ Buch versammelt und vertieft viele dieser Themen.
Auf der Suche nach der schwarzen Diaspora
An Universitäten fand mit der Etablierung von Globalgeschichte ein Umdenken vor rund zwanzig Jahren statt. Zeitgemässe Kolonialgeschichte, sagt der Historiker Bernhard Schär, habe erkannt: Nicht nur Afrika, sondern auch Europa ist zutiefst von der kolonialen Vergangenheit geprägt. Globalgeschichte legt den Fokus auf wechselseitige Beziehungen. Bis anhin war die Geschichte Europas von Weissen geschrieben worden.
Doch nicht nur die Geschichtsschreibung, unsere ganze Kultur in all ihren Facetten bringt mehrheitlich die Perspektive der Machthabenden zum Ausdruck. Die Kultur der anderen – vor allem Menschen in und aus den kolonisierten Gebieten, Angehörige der Unterschicht, Frauen –, ihre Perspektive und ihr Beitrag wurden in eine Art kollektiver Amnesie versenkt. Moderne Wissenschaft benennt diese Mechanismen als zutiefst undemokratisch: Demokratie ist nicht die Diktatur von europäischen Männern an den Schaltstellen von Geld und Macht. Sie formuliert den Anspruch, alle Teile der Bevölkerung an der Gemeinschaft teilhaben zu lassen.
Johny Pitts’ Buch ist so etwas wie der Grundstein zu einem europäischen schwarzen Narrativ, das sich nicht am Vorbild der Afroamerikanerinnen orientiert und deren Identität übernimmt. Er will eine Verbindung schaffen zwischen den spezifisch europäischen schwarzen Erfahrungen und Kulturen. Damit ragt das Buch heraus aus der Vielzahl wichtiger Bücher, die von strukturellem Rassismus im Alltag erzählen, von der Rassismuserfahrung in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Community.
Pitts’ Suche nach der schwarzen Diaspora in Europa ist persönlich motiviert. Seine Mutter ist weiss und entstammt der britischen Arbeiterklasse, sein Vater ein schwarzer Musiker. Johny Pitts wuchs in einem Arbeiterviertel von Sheffield im Norden Englands auf, trotz hoher Kriminalität in diesem Umfeld hat er in seiner Kindheit das Zusammenleben verschiedener Kulturen positiv erlebt. Später jedoch fühlte er sich zunehmend zerrissen: «Ich bekam das Gefühl, für meine alten schwarzen Freunde nicht schwarz genug, für meine alten weissen Freunde nicht weiss genug und für mein altes Viertel in Sheffield nicht proletarisch genug zu sein, aber auch nicht mittelständisch genug, um im snobistischen London zu überleben.» Er schreibt: «Ich vermute, dass ich wirklich loszog, um einen Stamm zu finden, bei dem ich mich zu Hause fühlen könnte.»
Der Begriff «afropäisch», von dem er sich dabei leiten lässt, passt, wie er sagt, gut zu seinen eigenen Erfahrungen. Übernommen hat er ihn von der belgisch-kongolesischen Musikerin Marie Daulne mit ihrer Band Zap Mamaund dem ehemaligen Frontmann der Talking Heads, David Byrne: Beide haben den Begriff in den frühen Neunzigerjahren geprägt. «Afropäisch» steht für eine Identität ohne Bindestrich: «Afrika und Europa oder, in einem weiteren Sinne, der globale Süden und der Westen, ohne gemischt-dies, halb-jenes oder schwarz-anders.»
Pitts dokumentiert seine Suche. Mit der Reisereportage wählt er eine Form, bei der er den Menschen auf der Strasse auf Augenhöhe begegnet und einen autoritativen Zugriff auf sein Thema vermeidet. Sein Text soll kein «Big Picture»-Buch über Racial Politics werden. Im Gegenteil: Es geht ihm um eine subjektive Annäherung, exemplarische Einblicke und verschiedene Perspektiven von verschiedenen Orten. Eine Erzählung, die Raum lässt für Widersprüche, Vorläufiges, Fehlschläge und Lücken. Es soll ein Text sein, der unterschiedlichste Erfahrungen aufnehmen, verbinden und zusammenführen kann. Denn Verbindung und Zusammenarbeit, schreibt Pitts, sei das, was die schwarze Diaspora Europas brauche, um ein Klima zu schaffen, in dem Vielfalt gedeihen kann und Rassismus schärfer angeprangert wird. Im Zusammenstehen der Demonstrierenden gegen Guerlain hat er diese Kraft gespürt.
Gegen die Kultur der Spaltung
Auf seiner Reise begegnet Pitts immer wieder Menschen oder Initiativen, die seine Idee einer «afropäischen» Identität verkörpern. Häufiger jedoch sind Erfahrungen und Beobachtungen, bei denen er ein positives Zusammenspiel der Kulturen vermisst, Spaltungen feststellt oder Lücken in der Geschichtsschreibung erkennt. In essayistischen und historischen Exkursen holt er ins Bewusstsein, was Geschichtsschreibung, hohe Kultur und Alltagskultur unsichtbar machen.
In Paris zum Beispiel, nach London die Stadt mit der grössten schwarzen Diaspora Europas. Auf einer Führung durch die Geschichte schwarzer Menschen in der Stadt hört er fast nur Geschichten von Afroamerikanern. Schwarze aus den USA, schreibt Pitts, würden wegen der kulturellen Distanz die Muster des subtilen Rassismus in Europa weniger klar erkennen als Europäerinnen mit dunkler Haut. So schwärmte in den 1940er-Jahren US-Schriftsteller Richard Wright, Förderer und späterer Rivale von James Baldwin, es gebe in Paris keine Spannungen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Die afrofranzösischen Vertreter der Négritude wie Aimé Césaire und später Frantz Fanon hingegen sprachen sehr wohl von Rassismus, sie drehten den Diskurs um und erklärten angesichts der Barbareien des Westens die afrikanische Kultur als überlegen.
Pitts, der Europäer auf der Suche nach seinem Erbe, sieht in Paris überall eine gespaltene Kultur und Zeichen von subtilem Rassismus: in den Menschen mit dunkler Haut, die hinter den weissen Pendlerinnen die Züge putzen; in der Neugestaltung des Stadtzentrums im späten 19. Jahrhundert unter dem Architekten Georges-Eugène Haussmann, die Arbeiter und Menschen mit dunkler Haut in die Peripherie verbannte; in Haussmanns ethnisch und klassenspezifisch gesäubertem Zentrum, das unser romantisches Bild der Stadt begründet; in den Afrofranzösinnen, die sich als Jamaikanerinnen ausgeben und die vom weissen Blick diktierten Hierarchien des Schwarzseins genau kennen; in den französischen Streitkräften aus den Kolonien, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegerparaden ausgeschlossen wurden; in der jugendlichen Community der Banlieue Clichy-sous-Bois, die 2010 nur Zaungast ist, wenn bei einer Gedenkfeier an zwei schwarze Jugendliche erinnert wird, die staatlicher Polizeigewalt zum Opfer fielen.
Die Reise führt Johny Pitts weiter nach Brüssel, Amsterdam, Berlin, Stockholm, Moskau, Marseille und Lissabon. Seine Reportagen aus Belgien und Holland kommen der Art, wie die Geschichte in den «Gespenstern des Kolonialismus» bei uns in der Schweiz weiterlebt, am nächsten. Die Schweiz war im Gegensatz zu Belgien und den Niederlanden keine Kolonialmacht, mischte jedoch im Windschatten der anderen Länder politisch, wirtschaftlich und kulturell eifrig mit, sie hat eine koloniale Vergangenheit ohne Kolonien.
Schokoküsse, der «Zwarte Piet» und «Tim und Struppi»
Die hiesige Diskussion um die Bezeichnung der Schokoküsse findet eine Entsprechung in der niederländischen Debatte um die Tradition des «Zwarte Piet», des schwarzen Helfers des Nikolaus; wie auch bei Rassismus in Kinderbüchern in der Debatte um den Comic-Band «Tim im Kongo» des Belgiers Hergé.
In seiner Reportage zeichnet Pitts nach, wie Hergé, der belgische Autor der «Tim und Struppi»-Reihe, sich bei der Arbeit an seinem Buch an Exponaten des Königlichen Museums für Zentralafrika in Tervuren bei Brüssel orientiert hat. Auch in der Schweiz haben wir ein Landesmuseum, Völkerkundemuseen oder ein Museum der Kulturen. Die Heroisierung des Eigenen und die Exotisierung des Fremden, die Konstruktion von kultureller Differenz und damit einhergehender Wertung ist auch in der Struktur der Schweizer Museumskultur und anderen Institutionen der Wissensvermittlung eingeschrieben. Pitts zeigt: Der «M_kopf» und die Denkmäler sind nur die Spitze des Eisbergs. Zugrunde liegt ein kultureller Machtdiskurs, dessen Wirkmächtigkeit über die politische und wirtschaftliche Ausbeutung von Kolonialismus und Postkolonialismus hinausgeht.
Was tun? Die Antwort eines Sozialarbeiters in der Pariser Banlieue, eine wirtschaftliche Lobby aufzubauen und sich an den Afroamerikanern in den USA zu orientieren, überzeugt Johny Pitts nicht. Ein solcher Ansatz, schreibt er, ziele auf die Teilhabe an einem neoliberalen System, das von Kritikern als per se rassistisch bezeichnet wird. Afroamerikanerinnen und ihre Kultur werden auf den Status einer Ware reduziert, «Blackness» wird als Teil der US-amerikanischen Markenwelt exportiert.
Pitts dagegen setzt auf den Aufbau einer europäischen schwarzen Kultur.
Sein Buch hat er als offene, heterogene und zugängliche Sammlung von Wissen angelegt. Auf der Website afropean.com lädt er Mitglieder der Community ein, eigene Erfahrungen zu publizieren, das Wissen kontinuierlich auszubauen und gemeinsam an einem neuen Narrativ europäischen Schwarzseins weiterzuschreiben, das auch geflüchteten Neuankömmlingen eine Brücke sein soll.
Letzte Station von Johny Pitts’ Reise ist Gibraltar, wo er sich am südlichen Ende Europas auf britischem Territorium wiederfindet. Wie so oft in diesem Buch schieben sich politische Realität und kulturelle Metapher übereinander. Dichte Wolken hängen am Himmel, der Blick nach Afrika bleibt ihm verwehrt. Doch die Reise hat ihn bestärkt: Sein Afrika liegt nicht jenseits des Kontinents, sein Afrika liegt innerhalb Europas.
Johny Pitts: «Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa». Suhrkamp, 461 Seiten. Im Original: «Afropean. Notes from Black Europe».
publiziert auf Republik am 10. September 2020. Bild © Johny Pitts/Suhrkamp Verlag