Vier Millionen Menschen sind auf der Flucht, weitere acht Millionen vor Ort vertrieben, halb Syrien ist vom IS besetzt. Die syrische Autorin und Aktivistin Samar Yazbek kennt die syrische Tragödie von innen. Ein Gespräch in Bern
Eine zierliche Frau eilt durch die Hotellobby. Samar Yazbek raucht noch rasch eine Zigarette, dann ist sie bereit. Engagiert gibt sie sich in das Gespräch hinein, lehnt sich vor, unterstreicht ihre Worte mit den langen, schmalen Händen und nimmt ihre Gesprächspartner in den Blick – selbst wenn man von der dunklen, kehligen Sprache nur hin und wieder ein Wort versteht, «Russia» etwa, «Irani» oder «Assad». Yazbek spricht Englisch und Französisch, das Interview wollte sie aber in Arabisch führen, weil ihr das Thema so wichtig ist. Wie alte Freundinnen wirken sie und ihre Übersetzerin. Larissa Bender hat alle ihre Bücher ins Deutsche übertragen – oder, wie Samar Yazbek sagt, mit ihr «gemeinsam geschrieben».
Frau Yazbek, für Samstag ist die zweite grosse Syrien-Konferenz angesagt. Was versprechen Sie sich davon?
Samar Yazbek: Ich bin wenig optimistisch. Ich glaube, die Weltgemeinschaft befindet sich in einem Zustand der Angst davor, was gerade in Syrien passiert. Es wird ein langer Prozess mit vielen Konferenzen werden, auf denen die beteiligten Staaten die Interessen, die sie in Syrien haben, untereinander aufteilen. Wir sind Zuschauer geworden.
Der Weltgemeinschaft geht es nicht um die syrische Bevölkerung?
In Syrien gibt es seit viereinhalb Jahren Massaker. Aber erst jetzt, da die Flüchtlinge nach Europa kommen, schaut man plötzlich hin. Die Staaten interessieren sich nicht aus humanistischen Gründen für die Situation in Syrien.
Ende September ist Russland in den Krieg eingetreten. Was bedeutet das?
Die Russen haben gesagt, sie würden den IS bombardieren, sie bombardieren aber eigentlich alles, vor allem die Zivilbevölkerung. Im Grunde ist Syrien jetzt offen für Interventionen von allen möglichen Staaten und Gruppierungen. Syrien ist zu einem Schauplatz für die Interessen der Grossmächte und der Anrainerstaaten geworden.
Was müsste der Westen tun?
Die Frage kommt eigentlich zu spät. Seit viereinhalb Jahren werden die Menschen vor Ort umgebracht. Assad ist ein Kriegsverbrecher, er hat sein eigenes Volk bombardiert, und man hat zugeschaut. Dann kam al-Qaida, dann der IS.
Trotzdem muss man versuchen, eine Lösung herbeizuführen.
Man müsste in erster Linie den IS bekämpfen, dann eine Übergangsregierung einsetzen. Assad müsste gehen. Es müssten Wahlen stattfinden. Vielleicht könnten sogar Friedenstruppen ins Land. Aber all das sind nur Worte, solange man das Gefühl hat, der Wille ist nicht da. Und ich zweifle daran, dass es einen Willen dafür gibt, die Tragödie in Syrien zu beenden.
Der Terrorismus ist mittlerweile ein grosses Problem.
Ja, der IS ist da. Er ist der offene und sichtbare Terrorismus. Worüber nicht gesprochen wird, ist der Terror des Assad-Regimes. Er ist Vorläufer und Ursprung des Terrorismus, der vom IS und den anderen radikalen islamistischen Gruppierungen ausgeht. Jeden Tag wird das Problem komplizierter. Aber man denkt nicht über eine Lösung nach.
Sind die Konferenzen nicht ein erster Schritt?
Natürlich, sie sind ein politischer Schritt. Ich bin auch für eine politische Lösung, aber die internationalen Beschlüsse müssen etwas bewirken. Wenn nicht die humanitären Prinzipien der Anlass sind, etwas zu tun, braucht man nicht weiterzureden. Assad muss dazu gebracht werden, dass die Bombardierungen aufhören. Assads Rolle ist der grosse Streitpunkt. Sie vertreten die Meinung, dass es mit ihm keine Lösung gibt.
Assad ist im Grunde nur noch eine Fassade für das, was der Iran und Russland tun.
Wenn es einen Transformationsprozess vom Krieg zum Frieden und zu einer gerechteren Gesellschaft gibt, kann das mit Assad nicht funktionieren. Aber mittlerweile wollen die Menschen einfach, dass die Bomben aufhören. Wenn Assad derjenige ist, der die Bomben stoppt, hätte er eine Rolle. Ich persönlich bin dagegen, dass Assad eine Rolle spielen wird, aber das ist nun nicht mehr so einfach.
Ihr neues Buch heisst «Die gestohlene Revolution». Wer hat die Revolution gestohlen?
Es gibt mehrere Faktoren. In erster Linie die systematische Gewaltanwendung durch das Assad-Regime, das mit höchster Gewalt auf die anfangs friedlichen Demonstranten reagiert hat.
Und später?
Die Intervention des Iran etwa, nicht nur militärisch, sondern auch religiös-gesellschaftlich, hat eine Brutalisierung des Konflikts herbeigeführt. Die Aktionen der Hizbollah zum Beispiel, die mit ihrem konfessionalistischen Diskurs versucht hat, die Gesellschaft zu spalten. Da die Empfangsbereitschaft für einen religiösen Diskurs vor Ort sowieso gross ist, hat dies zu einer Konfessionalisierung der Gesellschaft geführt. Die Religion spielt aber auch wieder eine grössere Rolle, weil die Menschen durch die Bombardierungen ihre Hoffnung verloren haben. Auch die Freie Syrische Armee ist komplett aufgerieben worden.
Welche Interessen hat Assad?
Man kann Hitler nach seiner Motivation fragen (lacht kehlig). Assad ist ein Diktator, und er ist der Sohn eines Diktators. Ganz zu Beginn der Revolution hat er gesagt: Ich bin bereit, das Land zugrunde zu richten. Hauptsache, ich bleibe an der Macht. Ich mache Assad und seine Verbündeten verantwortlich dafür, dass sie Syrien zu einem Schauplatz für alle Formen von Terroristen und Terrorismus gemacht haben, die sich dort auf einmal tummeln.
2012 und 2013 wollten Sie in Syrien Frauen- und Demokratieprojekte aufgleisen. Sie haben ein «zerstörtes Syrien» vorgefunden – so der Untertitel Ihres Buches. Wie sieht es vor Ort heute aus?
Syrien, wie es einmal war, gibt es nicht mehr. Je nachdem, wer das Sagen hat, gibt es ganz unterschiedliche Regionen in Syrien. Das ganze Land ändert sich. Es findet nicht nur ein demografischer Wandel statt dadurch, dass Menschen in andere Regionen oder aus dem Land flüchten. Es gibt auch einen sozialen Wandel, die Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Aber es gibt immer noch Menschen, die ihr Leben dort leben und an die Prinzipien der Revolution glauben.
Sie sammeln Geschichten von Leuten vor Ort. Warum sind Ihnen diese Geschichten wichtig?
Das syrische Volk leidet unter einer unglaublichen Ungerechtigkeit. Man hat die Demonstranten und die Aktivisten als Terroristen bezeichnet. Meine Aufgabe als Schriftstellerin ist es, die Wahrheit zu sagen. Geschichten von einfachen Menschen zu sammeln und ihnen, die sonst keine Stimme haben, eine zu geben. Seit viereinhalb Jahren werden diese Menschen ausgerottet, und die Welt schweigt dazu. Es gibt niemanden, der das, was sie zu sagen haben, an die Öffentlichkeit bringt. Das ist meine Aufgabe.
Sie sind in die Städte unter Bombenbeschuss und an die Front gereist, haben Führer der radikalen islamistischen Gruppierungen interviewt. Woher nehmen Sie Ihren Mut?
Ich habe darauf keine Antwort. Ich kann das auch nicht als Mut bezeichnen, ich bin überhaupt nicht mutig. Ich habe das Gefühl, dass ich das als Mensch machen muss. Ich möchte Teil des Veränderungsprozesses und Teil dieser Gesellschaft sein. Das hat mich dazu getrieben, nach Syrien zu gehen.
Für Ihre Reportagen bewegen Sie sich meist allein unter Männern. War das nie ein Problem?
Zu Beginn der Revolution war es gut möglich, allein als Frau durch Syrien zu fahren. Bei meinen Reisen 2012 und 2013 haben sich die Frauen kaum noch ausserhalb des Hauses bewegt, weil es zu gefährlich war. Die ländlichen Regionen sind sowieso eher traditionell, was das Frauenbild betrifft. Mit den islamistischen Gruppierungen wurde das verstärkt.
Noch vor der Revolution haben Sie Ihren Roman «Die Fremde im Spiegel» geschrieben . Darin geht es um Machtstrukturen. Warum stehen zwei Frauen im Fokus?
Das war nicht meine Entscheidung, die Geschichte hat mich gewählt (lacht).Im Rahmen meiner Frauenprojekte habe ich eine Frau kennen gelernt , und 60 Prozent dessen, was ich im Roman verarbeitet habe, sind ihre Geschichte. Ich wollte diese beiden gesellschaftlichen Schichten beschreiben: die der Armen, die um Damaskus herum leben, und die immer grösser wird und die der Reichen. Beide Frauen werden unterdrückt und unterdrücken andere und sich selber.
Diesen Kreislauf bei Frauen zu beschreiben, ist trotzdem ein bewusster Entscheid.
Ich beschäftige mich mit Frauen und Frauenrechten. Alle meine Romane handeln von Frauen, es ist natürlich für meine Art zu schreiben. Das Thema der Unterdrückung und der Gewalt, das bei uns in der Gesellschaft durchaus vorhanden ist, hat mich immer interessiert.
Was passiert mit den Frauenrechten im Krieg?
Die arabischen Revolutionen haben als Erstes die Frauen beiseitegedrängt. Jetzt kämpfen die Frauen, aber man sieht es nicht. Sie sind diejenigen, die in einer Art Schattenwiderstand dafür sorgen, dass das Leben weitergeht. Wenn die Diktaturen verschwinden, kommen alle Krankheiten hoch. Wir müssen als Frauen für unsere Rechte kämpfen. Dass wir eine bessere Zukunft bauen für die Frauen und jetzt schon die Grundlagen dafür legen. Deswegen ist es wichtig, jetzt nicht damit aufzuhören, für die Frauenrechte zu kämpfen.
Ihren Roman haben Sie 2008 geschrieben. Waren Sie überrascht, als die Revolution drei Jahre später ausgebrochen ist?
Als der Arabische Frühling in Tunesien anfing, habe ich damit gerechnet, dass der Funke auf Syrien überspringt. Vorher habe ich überhaupt nicht damit gerechnet. Ich dachte, wir hätten noch einen langen Weg vor uns, und wir müssten auf ganz anderen Ebenen kämpfen.
Im Sommer 2013 sind Sie zum letzten Mal heimlich nach Syrien gereist. Warum danach nicht mehr?
Ich hatte gedacht, ich könnte nach Syrien zurück und im befreiten Norden leben. Aber seit der IS und radikalisierte Gruppierungen das Sagen haben, ist das nicht mehr möglich.
Haben Sie Hoffnung, wieder nach Syrien zurück zu können?
Ich bin entschlossen, nach Syrien zurückzukehren, sobald es erste Anzeichen einer Lösung gibt. Jetzt ist das unmöglich. Die Gewalt vor Ort ist total entgrenzt.Samar Yazbek und ihre Bücher
Samar Yazbek
«Schrei nach Freiheit» machte Samar Yazbek 2012 im Westen bekannt. Darin dokumentiert die Autorin, die aus einer regimenahen alawitischen Familie stammt, wie die anfangs friedlichen Demonstrationen brutal unterdrückt und Religionsgemeinschaften gegeneinander aufgehetzt wurden. Yazbek gerät ins Visier der Geheimdienste. Drohungen bringen sie dazu, im Sommer 2011 mit ihrer Tochter ins Exil zu gehen.
Von 2012 bis 2013 reist Yazbek dreimal heimlich nach Syrien, ursprünglich, um Frauen- und Demokratieprojekte aufzubauen. Sie spricht mit jihadistischen Kämpfern, die über die türkische Grenze ins Land strömen, trifft Aktivisten in Medienbüros bis hin zu Führern der radikalen Gruppierungen. Dabei wird sie beinahe Opfer der Bombardierungen des Regimes. Ihre Aufzeichnungen sind unter dem Titel «Die gestohlene Revolution» erschienen. Auf Deutsch erhältlich ist zudem Yazbeks dritter Roman «Die Fremde im Spiegel» über die Liebe einer unterdrückten Frau der Oberschicht zu ihrer Dienerin.
Samar Yazbek lebt seit 2011 in Paris und engagiert sich weiter für Demokratieprojekte in Syrien. Unter anderem hat sie die Organisation «Women now for development» ins Leben gerufen.
publiziert in Berner Zeitung am 2. Oktober 2017. Bild © Christian Pfander