Normal, neutral, objektiv sind auch bloss Perspektiven: Die Politologin Emilia Roig plädiert in «Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung» für einen radikalen Systemwandel. Zuerst müssten wir aber verstehen, wie Ungleichheit hergestellt werde
Es gibt diese Zeichnung des deutschen Karikaturisten Hans Traxler: Zu sehen sind ein Affe, ein Storch, ein Elefant, ein Goldfisch, eine Robbe und ein Pudel vor einem Lehrer. Dieser erklärt ihnen: «Zum Ziel einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum.»
Bei dieser Aufgabe wird immer der Affe gewinnen. Und: Alle anderen werden sich schämen, dass sie nicht schnell genug auf den Baum geklettert sind. Was diese Aufgabe leugnet, ist: Es gibt unterschiedliche Voraussetzungen. Nicht alle Potenziale haben denselben Wert. Nur Baumklettern gilt als universelle Leistung. Die Karikatur trägt den Titel «Chancengleichheit».
Was ist Normalität? Das ist die Grundfrage, der die Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Emilia Roig in «Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung» nachgeht. Das Buch greift im Titel die Black-Lives-Matter-Bewegung auf, nimmt jedoch alle gesellschaftlichen Minoritäten in den Blick. Vor allem aber geht es Roig um das kulturelle System sozialer Hierarchie, in dem wir leben und das wir im Alltag – grösstenteils unbewusst – reproduzieren. Mit der Abschaffung der Sklaverei, dem Frauenstimmrecht oder mehr Rechten für Queers haben wir viele Fortschritte hin zu mehr Gleichstellung gemacht. Aber das sind alles bloss Verbesserungen innerhalb eines Systems, das auf Ungleichheit basiert. Roig sagt: Um wirklich Gleichberechtigung zu erreichen, braucht es einen radikalen Systemwechsel.
Emilia Roig hat in Berlin das Center for Intersectional Justice gegründet, hält Vorträge und bietet Sensibilisierungskurse an. Sie sagt, wir müssten zunächst verstehen, wie Ungleichheit hergestellt wird. In ihrem Buch schreibt sie: «Manche Standpunkte und Sichtweisen werden als neutral, objektiv und universell betrachtet und andere als subjektiv, partikular und spezifisch. Obwohl alle Standpunkte nebeneinander existieren, gewinnen einige die Deutungshoheit über andere.» Wir sind uns der Normalität selten bewusst, deswegen stellen wir sie nicht infrage und reproduzieren sie im Alltag.
Im Kokon familiärer Liebe
Wie das geht, hat Emilia Roig von klein auf mitbekommen. Die heute 38-Jährige ist in Paris in einer Familie aufgewachsen, in der unterschiedlichste Identitäten und globale Schauplätze zusammenkommen. Ihre Mutter kommt aus dem französischen Überseedepartement Martinique und ist Schwarz. Ihr Vater gehörte der algerischen Kolonialgesellschaft an. Ihre Grossmutter ist jüdisch, ihr Grossvater vertrat offen rassistische und antisemitische Vorstellungen. Im Kokon familiärer Liebe wurde strukturelle Ungleichheit weitergereicht.
Roig wusste als Mädchen: Wenn sie ihre Schwester «Kraushaar» nannte, konnte sie diese am härtesten treffen – sie selber hat lockige Haare und hellere Haut. Die französische Sprache kennt unterschiedliche Bezeichnungen je nach Hautton und setzt damit die Werteskala der Sklaverei fort. Ein Aufenthalt der erwachsenen Schwestern mit der Mutter in New York war erlösend, denn in den USA galten sie alle als Schwarz, die innerfamiliären Hierarchien waren aufgehoben. In Tansania und Uganda, wo Roig zwischenzeitlich gearbeitet hat, galt sie hingegen als Weisse.
Emilia Roig beleuchtet unterschiedliche Bühnen, die für die Konstruktion und Reproduktion vermeintlicher Normalität entscheidend sind. Dabei überblendet sie eigene Erfahrungen mit Studien und Forschung. Vieles davon ist nicht neu. Die Autorin bezieht sich etwa auf Frantz Fanon, der 1952 in seinem Buch «Schwarze Haut, weisse Masken» das Konzept einer «Linie der Menschlichkeit» vorstellt, entlang der über den Wert von Menschen entschieden wird: ein unterdrückerischer Dualismus. Und das Konzept «Intersektionalität» für Menschen, die sich an den Kreuzungspunkten verschiedener Ungleichheitssysteme befinden, hat Kimberlé Crenshaw 1989 formuliert. Für Roig war es prägend, als sie während eines Forschungsaufenthaltes in New York bei Crenshaw studierte. Sie schreibt, es habe sie zwei Fragen stellen lassen: «Warum hatte ich Zugang zu solchen elitären Institutionen – und andere nicht?» Und: «Warum musste ich bis zur Promotion warten, um eine andere Perspektive auf die Welt zu entdecken, die nicht von weissen europäischen Männern stammt?»
Die Empathielücke
Gerade universitäre Bildung gilt als Paradigma neutralen, universellen, objektiven Wissens. Sie ist es nicht. Davon zeugt die Tatsache, dass feministische oder postkoloniale Wissenssysteme immer noch als Spezialwissen gelten und von einer weissen, europäischen, männlichen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert werden. Mehr noch: Wissenschaft selbst war massgeblich daran beteiligt, die Konstruktion von männlich-weisser Überlegenheit zu untermauern. Seit der Aufklärung sind patriarchale Gesellschaft, Kapitalismus und Kolonialismus eine unheilige Allianz eingegangen und haben die dualistische Gesellschaftsstruktur global geformt und gefestigt.
Der vermeintlich neutrale Status von Bildung führt dabei zu einem Phänomen, das Emilia Roig «Empathielücke» nennt: Unterdrückte Minderheiten lernen von klein auf, Empathie für die Dominanzgesellschaft zu entwickeln. Umgekehrt gilt das nicht. Mädchen lernen, sich in Jungs hineinzudenken, aber männliche, weisse oder heterosexuelle Menschen lernen primär, sich in ihresgleichen hineinzufühlen. Studien zeigen, dass People of Color als Folge beispielsweise weniger Schmerzmedikation erhalten, man glaubt ihnen weniger, sie werden häufiger verurteilt, oder es gilt als weniger schlimm, wenn sie im Mittelmeer ertrinken.
Emilia Roigs Buch gliedert sich ein in eine ganze Reihe von Büchern, die Unterdrückungsmuster thematisieren – Alice Hasters’ «Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten» etwa, «Sprache und Sein» von Kübra Gümüsay oder der Roman «Identitti» von Mithu Sanyal, in dem auch die eingangs genannte Karikatur vorkommt. Gerade in Deutschland stösst dieser Diskurs auf Resonanz. Roigs Buch gelangte rasch auf die Bestseller- und Bestenlisten. Einige Kapitel sind etwas summarisch gehalten, aber mit seinem umfassenden Blick ist das Buch eine grossartige Einladung, neu über Gesellschaft nachzudenken. Die Autorin schreibt mit viel Empathie und in ruhigem Ton. Zudem führt sie immer wieder Beispiele von Unterdrückungsmustern an, die sie an sich selbst beobachtet.
Die meisten Menschen würden Überlegenheits- und Unterlegenheitsidentitäten in sich vereinen, sagt sie und sieht darin den Weg, der von der Spaltung zu einem neuen Prinzip der Verbindung führen kann. Denn das ist das Problem: Menschen reagieren sehr abwehrend, wenn man ihnen Rassismus oder Sexismus vorwirft; sie sind sich nicht bewusst, dass ihre Privilegien die Schwierigkeiten sind, die sie nicht hatten. Man nennt das «White Fragility». Emilia Roig schlägt stattdessen den Begriff «Vulnerability» vor – einen Bewusstseinswandel, der mit einer Öffnung zu mehr Menschlichkeit einhergeht. Und damit die Hoffnung auf Heilung.
Emilia Roig: Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung. Aufbau Verlag, 397 Seiten
publiziert in WOZ, 15. April 2021; Bild © Mohamed Badarne/Aufbau Verlag