Édouard Louis ist der politischste Literat Frankreichs. Er erforscht Homophobie, Rassismus und Klassenhass am eigenen Leib und marschiert mit den Gelbwesten mit
Nein, fürs Foto will er nicht in die Kälte raus, posieren will er auf einem modernen Stuhl und das Bild irgendeiner Autorin als Hintergrund kommt nicht infrage: Édouard Louis weiss genau, was er will. Aber er sagt es mit Charme und mit der gleichen unverfänglichen Selbstverständlichkeit, mit der er seine Ansichten formuliert – die in ihrer Radikalität grosse Sprengkraft haben.
Ihr Buch «Wer hat meinen Vater umgebracht» endet mit dem Satz «Was es jetzt bräuchte, ist eine anständige Revolution». Ist es das, was in Frankreich passiert?
Édouard Louis: Ich hoffe, die Bewegung der «gilets jaunes» wird sich zu einer Revolution entwickeln. Jetzt sieht man Leute, die sagen, ich habe kein Geld, um mir Essen zu kaufen. Sie sagen, meine Mutter stirbt in einem fünf Kilometer entfernten Dorf und ich habe kein Geld, um sie zu besuchen. Sie sagen, ich kann meinen Kindern keine Geschenke kaufen. Das ist aussergewöhnlich. Diese Sätze sind viel politischer als alle technokratischen Sätze über Schulden oder Verantwortung. Diese Bewegung ist eine Bewegung der Wahrheit.
Wie meinen Sie das?
In dem proletarischen Milieu meiner Herkunft hörten wir die Politiker und Politikerinnen im Fernsehen und fragten uns: Wovon reden die bloss? Von welcher Welt sprechen sie? Auch bei den 1968ern ging es um Wahrheit. Gemeinhin heisst es, damals sei es um Utopie und Träume gegangen, aber der französische Philosoph Gilles Deleuze hat gesagt, nein, das sind Leute, die mehr Geld haben wollen, die Liebe machen wollen, die frei sein wollen. Dasselbe passiert heute, die Wahrheit setzt sich durch. Die Frage ist, was daraus werden wird. Werden die Leute sagen: Ich leide wegen der Ungleichheiten der Klassen und des Systems? Oder werden sie sagen: Ich leide wegen der Frauenrechte und der Migranten.
Warum setzt sich die Wahrheit gerade jetzt durch?
Wir sind am Ende einer Geschichte der politischen Gewalt gegen die Armen angelangt. Eine Art konservative Revolution, die in den 1980er-Jahren angefangen hat und Regierungen wie die von Margaret Thatcher, Gerhard Schröder und heute Emmanuel Macron hervorgebracht hat. Es ist eine Geschichte der Zerstörung der sozialen Rechte und der Bemühungen um Gleichheit. Heute gibt es einen verkehrten Klassenkampf der Herrschenden gegen die Unterdrückten. Das ist das Ende der Scham in der Politik. Donald Trump und Emmanuel Macron schämen sich nicht mehr, die Armen zu beschimpfen. Macron sagt, er spreche nicht mit einem Mann im T-Shirt, würde er arbeiten, hätte er einen Anzug. Er sagt, in einem Bahnhof kreuze man Leute, die es zu etwas gebracht hätten, und solche, die nichts sind. Trump beschimpft die Mexikaner.
Emmanuel Macron hat Konzessionen gemacht und zu einer nationalen Debatte aufgerufen.
Man darf Macrons Lügen nicht glauben. Die Leute demonstrieren auf der Strasse, ihnen werden dabei Augen zerstört, Hände abgerissen, die Repressionsgewalt der Polizei in Frankreich ist gross. Die unteren Schichten haben gesagt, was sie wollen. Macron hat nicht darauf reagiert. Es gibt keinen Dialog. Aber ich will nicht Macron kommentieren. Ich schreibe meine Bücher, weil ich über meine eigenen Themen sprechen will.
Aber Macron hat doch die Gemeinden zu Diskussionen aufgefordert.
In meiner Kindheit arbeitete mein Vater als Strassenwischer. Einmal kündigte ein konservativer Minister einen Besuch bei seiner Arbeit an und mein Vater sagte immer wieder, was er ihm alles erzählen würde. Der Minister kam, und als mein Vater ihn und seine schönen Kleider, seine Sprache, seine Selbstsicherheit sah, hat er nichts gesagt. Mein Vater war durch die Macht und durch die Attribute der Macht gedemütigt. Wenn man nicht gleichberechtigt ist, was soll da Dialog heissen? Heute unterstützen vielleicht 20 Prozent der Leute Macron. Gäbe es einen Dialog, hätte Macron verstanden, dass er gehen muss.
Macron will ein Gesetz durchsetzen, das die Gewalt reguliert.
Das ist Gewalt gegen die Protestierenden. Es geht darum, Menschen, die ein demokratisches Recht ausüben, ins Gefängnis zu bringen. Würde die Regierung auf die Leute hören, würden sie keine Autos anzünden. Macron ist verantwortlich für jedes angezündete Auto.
Wie soll es weitergehen?
Ich denke oft an die Bewegung der Homosexuellen oder der Frauen. Sie haben nicht um das Recht gebeten, zu existieren. Sie waren auf der Strasse und haben gesagt, wir sind da, ihr müsst uns dieselben Rechte geben.
Wie konnten sich diese Bewegungen politisch durchsetzen?
Man fragt mich oft: Wird Marine Le Pen die Wahlen gewinnen? Sie hat schon gewonnen. Ein Teil der Rechten und sogar der institutionellen Linken spricht die ganze Zeit von Migranten und vom Islam. Dabei sind die wichtigsten Themen die Prekarität, die Armut, die soziale Gewalt. Der Front National hat es geschafft, seine Sprache aufzuzwingen. Die Gay-Bewegung hat dasselbe gemacht. Sie hat nach und nach den öffentlichen Raum umgestaltet, sogar innerhalb der Rechten. Ich hoffe, der heutigen Bewegung wird dasselbe gelingen. Ich hoffe, die zukünftigen Politiker werden die «gilets jaunes» im Kopf haben und für sie kämpfen. Die Bourgeoisie hatte Angst. Das war schön!
Wieso schön?
Die unteren Volksschichten haben die ganze Zeit Angst – Angst, die Miete nicht zahlen zu können, die prekäre Arbeit zu verlieren, aus der Wohnung gejagt zu werden. Dass für einmal die Bourgeoisie Angst hatte, wird, hoffe ich, etwas politisch Dauerhaftes schaffen. Man sah die «gilets jaunes» auf den Champs Élysées und daneben standen die Leute in ihren Pelzmänteln. Da trafen Welten aufeinander, die sich sonst nie berühren.
Sie verteufeln die Bourgeoisie.
Die Bourgeoisie hat auch Leute wie Simone de Beauvoir geschaffen, oder Jean-Paul Sartre. Und als Homosexueller konnte ich mein Leben in der Bourgeoisie besser leben als in den unteren Volksschichten. Ich will kein Loblied der Unterschichten singen. Es geht nicht um Moral. Es geht um Politik, um Wahrheit. Es geht darum, von den Unterdrückten zu reden. Sehr oft, wenn die Leute von den unteren Schichten reden, sprechen sie nur von einem kleinen Teil.
Von wem reden Sie?
Mich interessiert es, von den Unterdrücktesten unter den Unterdrückten auszugehen. Also von den Gays, den Frauen, dem Lumpenproletariat. Welche Privilegien hat ein Mann, die eine Frau nicht hat? In der Literatur und in der Politik ist es dasselbe: Je weiter man in der Gewalt vordringt, umso näher gelangt man an die Wahrheit. Man schliesst noch mehr Leute ein.
Jüngst haben sich die «gilets jaunes» erstmals mit Gewerkschaften und der Linken zusammengeschlossen.
Eine soziale Bewegung entwickelt sich, das ist der Lauf der Dinge. Die Linke sollte per Definition die Gewalt in der Welt verringern. Wie ist für mich nicht wichtig. Ich will das Resultat.
Sie selbst nehmen an den Protesten der «gilets jaunes» teil. Warum?
Fast alle grossen Schriftsteller und Schriftstellerinnen hatten feine Sensoren für soziale Gewalt und Ungleichheit – Toni Morrison, Elfriede Jelinek, Marguerite Duras, Émile Zola, Simone de Beauvoir. Darum haben sie grosse Werke geschaffen, auch in ästhetischer Hinsicht. Revolte und Ästhetik hängen zusammen. Die Wut ist ein ästhetisches Prinzip, um grosse, unvergessliche Bücher zu schreiben.
Sie unterstützen das Comité Adama.
Adama Traoré wurde von den Gendarmen getötet. Danach hat seine Schwester Assa Traoré das Comité Adama geschaffen, um gegen die Polizeigewalt und staatlichen Rassismus zu kämpfen. Sie sprach von realen Dingen – wie die «gilets jaunes». Sie sagte: Die französische Gesellschaft raubt den Schwarzen und den Arabern von ihrer frühesten Kindheit an ihre Träume. Assa Traoré wird eine wichtige Rolle spielen. Sie hat gesagt, die «gilets jaunes», Frankreich, das sind auch wir. Das war ein wichtiger Moment der Veränderung der Politik.
In Ihrem Buch kehren Sie zu Ihrer Kindheit zurück. Wie lange haben Sie Ihren Vater nicht gesehen?
Als ich mein erstes Buch fertig hatte, hatte ich meinen Vater fünf Jahre fast nicht mehr gesehen, das war ein Viertel meines Lebens. Ich war nach Paris gegangen und habe dort mein Leben als Homosexueller geführt und geschrieben und mein Vater war im Norden Frankreichs und stimmte für den Front National. Es war unmöglich, miteinander zu sprechen. Als ich meine beiden ersten Bücher publiziert hatte, rief mich mein Vater an. Das war eine unglaubliche Überraschung, weil mein Vater immer gesagt hatte, man müsse die Schwulen umbringen. Plötzlich sagte er zu mir, ich bin stolz auf dich.
Können Sie gut miteinander reden?
Wenn ich meinen Vater sehe, weiss ich, für meinen Vater verkörpere ich die dominante Klasse. Wenn wir in meiner Kindheit jemanden sahen, der Privilegien hatte, fühlten wir uns gedemütigt. Es gibt eine Art objektiver Demütigung, ich habe das selbst erfahren. Es ist der Ausgangspunkt meines Buches: Was passiert, wenn plötzlich ich diese Gewalt verkörpere? Wie also kann man gemeinsam etwas neu schaffen?
Schaffen Sie es, mit Ihrem Vater darüber zu sprechen?
Wir versuchen es. Mein Vater hört mir zu. Und er, der sein ganzes Leben lang Front National gewählt hat, wählt jetzt die Linke. Er hat sich verändert. Trotzdem gibt es den sozialen Abstand – zusätzlich zum sexuellen Abstand, der seit meiner Geburt besteht, weil meine Familie sagte, sie möge keine Schwule.
Sie machen die Politik für das zerstörte Leben Ihres Vaters verantwortlich. Aber Sie selbst sind ja das beste Beispiel dafür, dass es doch gelingen kann, sich aus der sozialen Vorherbestimmung zu befreien.
Nein. Meine Homosexualität hat mich aus meinem Milieu katapultiert. Das war eine spezielle soziologische Konfiguration, das «soziale Urteil» und das «sexuelle Urteil» kamen zusammen. Ansonsten ist die soziale Reproduktion übermächtig. Es ist seltsam, vor allem im deutschsprachigen Raum wird mein Buch obsessiv politisch gelesen. (lacht)
Sie folgen ja der Tradition von Émile Zolas Anklageschrift «J’accuse».
Natürlich gibt es im Buch die politische Seite und die Anklage. Aber mir ging es darum, wie für jemanden wie meinen Vater die Politik etwas Intimes ist. Ein Entscheid von Macron oder Chirac betrifft ihn unmittelbar und ist genauso persönlich wie ein erster Kuss oder seine Beziehung zu seinem Sohn. Wenn Sie Flüchtling sind und Ihre Mutter im Mittelmeer ertrinkt, ist das etwas sehr Intimes. Hätte Macron entschieden, den Flüchtlingen zu helfen, wäre Ihre Mutter nicht gestorben. Die Grenze zwischen Politik und Leben scheint mir verlogen. Nur die Privilegierten sind viel weniger betroffen, für sie ist Politik vor allem eine ästhetische Frage.
Ihr Buch erschien zeitgleich mit dem neuen Roman von Michel Houellebecq. Was halten Sie von ihm?
Er interessiert mich überhaupt nicht! (lacht ausgiebig) Ich habe nie ein Buch von ihm angerührt. Die extreme Rechte interessiert mich grundsätzlich nicht.
Viele Leute sagen, das sei bei Houllebecq bloss Pose.
Selbst wenn es das wäre: Für jemanden, der schwarz oder Araber ist, ist es kein Spiel. Aber was ist Literatur? Die extreme Rechte ist eine Welt der Lügen – wer sagt, die Frauenrechte oder der Islam seien ein Problem, lügt. Deswegen ist das nicht schön. Es ist seltsam – von einem Buch wie «Beloved» von Toni Morrison kann man sagen, es ist schön, obwohl es von Schwarzen handelt, die umgebracht werden. In der Wahrheit liegt eine Schönheit. Diese anderen Bücher sind bloss Modephänomene. Sie erlauben den Leuten, hässlich zu sein und ihre kleinen rassistischen und frauenfeindlichen Impulse zu entladen. Das ist keine Literatur. (lacht)
Alle Ihre Bücher sind autobiografisch. Warum?
Als Le Clézio den Literaturnobelpreis bekam, sprach er am Fernsehen darüber, wie er seine Figuren konstruiert. Ich dachte damals, wir sind wirklich arm, wir leiden wirklich: Warum redet er nicht von uns? Ich habe versucht, Fiktion zu schreiben, aber jedes Mal habe ich mich geschämt und mich gefragt: Wie wagst du es, nicht von deiner Mutter zu sprechen? Niemand wird je eine Biografie über sie schreiben. Wenn ich es nicht tue, verschwindet ihre Existenz. Das finde ich ungerecht.
Das Autobiografische hat auch eine grosse Kraft.
Wenn das, was man geschrieben hat, gelebt wurde, zwingt es die Leute, sich stärker damit auseinanderzusetzen. In der Literatur gibt es heute eine weltweite Recherche der Erfahrung. Das ist etwas Radikales. Ich sage nicht, dass Literatur so sein muss. Aber diese Literatur hat ein grosses Potenzial.
Warum ist das heute so präsent?
Literatur wurde dazu benutzt, nicht zu sehen, was geschrieben war. Es hiess, was zählt, ist der Stil. Weltweit erleben wir mit dem Aufstieg der extremen Rechten eine brutale politische Bewegung. Die Schriftsteller reagieren darauf und erfinden neue Formen. Die Literatur war immer an einen Kontext gebunden.
Was macht das Literarische aus?
Der Körper sagt das. Man spürt, dass etwas Zusätzliches passiert. Man sieht, wie es das Publikum berührt. Aber die Literatur ändert sich ständig. In «Wer hat meinen Vater umgebracht» liess ich mich vom Rap inspirieren und ich rede von der aktuellen Politik. Der Rap in der Musik hat diese Kraft, über die Gegenwart zu sprechen, während die Literatur davor zurückschreckt. Wie wenn die Literatur vor Gott erscheinen würde und nicht vor der Gesellschaft.
Édouard Louis (26)
Der Schriftsteller Édouard Louis wuchs in der nordfranzösischen Picardie auf. Aufgrund seiner schulischen Leistungen konnte er die Provinz verlassen, studierte an der Pariser Eliteschule und gehört heute mit seinen Freunden Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie zu den führenden Intellektuellen Frankreichs. In seinem Debüt «Das Ende von Eddy» von 2014 schreibt er über die Gewalt, der er als Homosexueller im proletarischen Milieu seiner Kindheit ausgesetzt war. Das Buch wurde in mehr als 12 Sprachen übersetzt. «Im Herzen der Gewalt» handelt von einem Flirt, der in einen Mordversuch mündet. Das neue Buch «Wer hat meinen Vater umgebracht» ist ein Porträt seines Vaters. Alle Texte des 26-Jährigen sind autobiografisch und versuchen, mit einem intimen Blick die Auswirkungen von struktureller Gewalt wie Homophobie und Sexismus, Rassismus und Armut aufzufächern. Am Sonntag spricht Édouard Louis in der Sendung «Sternstunde Philosophie» (So, 17. 2., 11 Uhr, SRF 1), seine Bücher sind bei S. Fischer in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen.
publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 16. Februar 2019. Bild © Claudio Thoma