Vor knapp 20 Jahren hat Rachel Cusk ein radikal ehrliches Buch über Mutterschaft geschrieben. Nun ist «Lebenswerk» auf Deutsch greifbar – und provoziert noch immer
Ihre Tochter Adelaide war sechs Monate alt, als Rachel Cusk merkte, dass sie er- neut schwanger war. Und weil sie sich bewusst wurde, wie viele der Erfahrungen ihrer ersten Schwangerschaft bereits ver- blasst waren, entschied sie sich, diesmal ihre Gefühle und psychischen Zustände festzuhalten. Sie zog mit ihrem Mann aufs Land, er kümmerte sich um das Baby, da- mit sie Zeit finden würde, das Buch zu schreiben. «A Life’s Work» war fertig, als ihre zweite Tochter Jessye wenige Monate alt war. «Dein Buch wird viele Leute wütend machen», wurde sie von einer befreundeten Autorin gewarnt. «Beachte nicht, was sie sagen werden. Es ist ein sehr gutes Buch. Ignoriere sie einfach», sagte auch ihre Schwester. Und tatsächlich, «A Life’s Work. On Becoming a Mother» machte Rachel Cusk zur meistgehassten Schriftstellerin Englands, so die britische Zeitung «The Guardian».
Das war im Jahr 2001. Regretting Motherhood war noch kein Schlagwort. Erst vierzehn Jahre später publizierte die israelische Soziologin Orna Donat unter diesem Titel eine Studie, die zumal in Deutschland eine grosse Debatte über den Mythos Mutterschaft lostrat. Donat zitiert darin Frauen, die teilweise schon während der Schwangerschaft ihren Entscheid be- reuten. Und alle befragten Mütter gaben an, sie würden anders wählen, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten. Es war ein Tabubruch. «Kinder sind das grösste Glück», so lautet der gesellschaftliche Im- perativ. Anders zu empfinden, ist heute noch ein verbotenes Gefühl.
Der Schrecken der Geburt
Nicht die Frage, ob ein Kind oder nicht, steht im Zentrum von Rachel Cusks Buch. Vielmehr geht es der Autorin darum, zu ergründen, was es bedeutet, sich von einer Frau in eine Mutter zu verwandeln. «In der Mutterschaft tauscht eine Frau ihre öffentliche Rolle gegen eine Reihe privater Bedeutungen ein, und wie Geräu- sche ausserhalb eines gewissen Radius sind diese Bedeutungen für Aussen- stehende manchmal kaum wahrzuneh- men.» Sie wollen nicht wahrgenommen werden, Cusk spricht von der Schwer- hörigkeit der Kinderlosen. Sie spricht aber auch vom Schweigegelübde, das sich Frauen selbst auferlegen. Mit dem Vor- gang der Geburt fängt das an. Der Um-
stand, dass sie keine einzige aufrichtige Schilderung dieses universellen Vorgangs gehört habe, lege nahe, dass das Myste- rium von einem Schrecken umgeben sei, schreibt sie. Dem Schrecken, dass «ein fundamentaler Bestandteil des Ich ent- fernt wird und man nachher ein Schein- bild ist, eine gehirngewaschene Kopie, die darauf programmiert wurde, kein Zeugnis von der Wahrheit abzulegen».
Doch was genau passiert in diesem «Drama», bei dem «die Entbindung nur der Auftakt ist»? Die vierzig Wochen der Schwangerschaft, die zunehmende Angst vor der Geburt, die Rückkehr nach Hause, das Stillen, die Schlaflosigkeit, das Los- lassen: Immer darum bemüht, so unvor- eingenommen wie möglich zu sein, ge- langt Rachel Cusk zu wahlweise erhellen- den oder schockierenden Formulierun- gen. Sie kratzt am Lack des Ideals einer perfekten Mutterschaft und verordneter Glücksgefühle, die Geburtsvorbereitungs- kurse, Schwangerschaftsratgeber, später auch Stillgruppen bereithalten. Aus dem Dunkeln holt sie widersprüchliche Ge- fühle und Erschütterungen hervor. Ernäh- rungs- und Verhaltensempfehlungen während der Schwangerschaft deutet sie als öffentliche Inbesitznahme ihres Kör- pers, sich selbst in der Zeit nach der Ent- bindung zeichnet sie als mehrteilige Krea- tur, deren Körper ganz auf die Bedürfnisse des Babys umgebaut wird, und das Baby sieht sie auch einmal wie ein extrem teue- res Stück, das sie sich im Laden gekauft hat und dem sie zu Hause mit welkendem Mut gegenübersteht. Immer wieder geht es um die Verschiebung der Koordinaten ihres Daseins, die Angst vor dem Kontroll- verlust, das Ringen ums eigene Ich.
Das Tabu brechen
Ob sie ihre Kinder liebe, wurde Rachel Cusk nach der Publikation gefragt. Doch das ist die falsche Frage. «Mutterschaft bietet ein einzigartiges Fenster auf die Geschichte unserer Geschlechts», schreibt sie. Eine Verschleierung spielt der patri- archalen Ordnung in die Hände, aber auch progressive Diskurse scheuen das Thema, sind doch Mutterschaft und Geburt die Grundpfeiler, auf denen die Ungleichheit der Geschlechter zementiert wurde. Mit ihrem forschenden Blick ist Cusk nicht allein. Elena Ferrante etwa zeichnet in «Die Frau im Dunkeln», im Original 2006 erschienen, ein ähnlich kraftvoll-realisti- sches und ambivalentes Bild, bricht mit dem Tabu und fordert Sichtbarkeit ein.
Die Suche nach Wahrheit ist ein Minen- feld. Noch mehr Hass zog Rachel Cusk mit ihrem nachfolgenden autobiografischen Werk «Aftermath» über ihre Scheidung auf sich. Schliesslich tauchte sie mit der Trilogie «Outline» wieder auf: autofiktionale Texte, in denen sie die Geschichten, die andere ihr mitteilen, wiedergibt. Es ist eine Art nega- tives Erzählen, in dem das Ich als Teppich miteinander verwobener Erzählungen anderer erscheint. Und die heute 52-jährige Autorin als eine der interessantesten gegen- wärtigen literarischen Stimmen.
Rachel Cusk, «Lebenswerk. Über das Mütterwerden», Suhrkamp, 220 S.
Publiziert in «Bücher am Sonntag», Beilage der «NZZ am Sonntag», am 27. Oktober 2019. Bild ©Suhrkamp Verlag