LAUDATIO Für Benjamin Quaderer und seinen Roman «Für immer die Alpen» bei der Verleihung des Rauriser Literaturpreises 2021 für die beste Prosaerstveröffentlichung aus Deutschland, Österreich, der Schweiz — und Liechtenstein
Am Anfang steht ein Schrei: Der Vater beugt sich über den Neugeborenen, lächelt ihn an, doch dieser erkennt eine Grimasse. Also stösst er einen Schrei aus, der den Kirchturm umschwirrt und die Glocken zum Läuten bringt, durch den Landtagssaal des Liechtensteiner Regierungsgebäudes fegt, hinein in die Schatzkeller und die fürstlichen Gemächer im Schloss, und weiter, hoch hinauf, bis er am Gipfel des höchsten Berges explodiert. Doch nein, nicht «Ich kam, sah und siegte» oder «Der Heiland ist geboren, der Retter ist da» hallt es über das Land. Sondern: «Der Datendieb, der Datendieb ist geboren».
Das ist falsch. Richtig falsch. So richtig falsch wie falsch richtig der erste Satz ist, mit dem Benjamin Quaderer den Ich-Erzähler seines Romans «Für immer die Alpen» beginnen lässt: «Mein Name war einmal Johann Kaiser». Ein internationaler Haftbefehl ist auf den Erzähler ausgestellt. Er gilt als Staatsfeind Nummer 1. Deshalb lebt er von seiner Identität entkoppelt in einem Zeugenschutzprogramm im globalen Untergrund. Alles, was ihm als Nichts an einem Nicht-Ort noch bleibt, ist seine Geschichte. So erzählt er das Leben des tief gefallenen Johann Kaiser auf der Höhe, die seinem eigenen Selbstbild entspricht. Richtig richtig wäre: Johann wie Johann Adam II, der das Land gekauft und also das Fürstentum ins Leben gerufen hat. Und Kaiser, wie der Historiker Peter Kaiser, der das Standardwerk der Geschichte des Fürstentums geschrieben hat. Doch dazu später mehr.
Benjamin Quaderer lässt Johann Kaiser um sein Leben erzählen. Um der Bedeutungslosigkeit zu entgehen, schöpft dieser aus dem Vollen. Er strampelt sich ab, bedient sich erzählerischer Tricks und Kniffe, zieht alle Register und zündet ein Feuerwerk maximalen Bedeutungsüberschusses. Schon seine Geburt inszeniert er als quasi biblisches Ereignis, später zeichnet er sich wie Moses als Findelkind vor die Tür gelegt oder in wundersamer Fügung von niemand Geringerem als Fürstin Gina als Ziehsohn protegiert, er führt Prophezeihungen an und verortet sich mit sprachlichen Formeln im Raum der Mythen, Märchen und Legenden. Gleichzeitig unterfüttert er seinen Text mit Quellenangaben, in denen er zumeist sich selbst zitiert oder er verbannt angeblich nicht belegbare Erinnerungen in Fussnoten, die jedoch bald die Oberhand gewinnen. Er schwärzt Textpassagen, rekonstruiert als Undercover-Journalist angebliche Zweitmeinungen oder zieht als Buch im Buch eine vermeintliche Aussenperspektive bei. So plustert dieser Text sich maximal auf und ist zugleich peinlichst bemüht, seinen Wahrheitsgehalt zu bezeugen. Gerade dadurch lotet er paradoxerweise den Raum zwischen Wahrheit und fiktionaler Entfernung von dieser maximal aus — und präsentiert sich en passant als glanzvolle Parade postmodernen Erzählens.
Clou von Benjamin Quaderers Buch ist jedoch: All diese Phantastereien sind wahr. Den Datendieb hat es tatsächlich gegeben. Er heisst Heinrich Kieber und die von ihm offengelegten Datensätze führten 2008 unter anderem zu der spektakulären Festnahme von Klaus Zumwinkel, dem damaligen Chef der Deutschen Post. Das Liechtensteiner Finanzwunder implodierte. Kieber selbst hat ein Buch mit dem Titel «Der Fürst. Der Dieb. Die Daten» geschrieben, einen angeblichen «Tatsachenbericht», der nicht weniger abenteuerlich daherkommt als Plot und Erzählformen des vorliegenden Romans, Schwärzungen und vermeintliche Aussenperspektiven inklusive. Somit ergibt sich die interessante Konstellation: Während Johann Kaiser, Ich-Erzähler im Roman, mit Quellenangaben die Fiktion als Wahrheit beglaubigen will, verhält es sich beim Autor Benjamin Quaderer genau umgekehrt: Er zieht die Quellenangaben bei für die Beglaubigung der Fiktion.
«In dieser Welt gab es nichts, was mich hielt», will Johann Kaiser früh gesagt haben, als seine Schwestern, zwei Zwillinge, versuchten, ihn mit einem Kissen zu ersticken. So stolpert er sich trickreich seinen Weg dorthin, wo er seiner Vorstellung nach hingehört. Er klaut seinem besten Freund das Moped, reist nach Barcelona, gibt sich dort als Sohn der Liechtensteiner Unternehmerfamilie Hilti aus. Als aber nicht nur seine leibliche Mutter sondern auch seine Ersatzmutter Fürstin Gina stirbt, verliert er vollends die Bodenhaftung. In Barcelona lässt er sich auf einen krummen Immobilienhandel ein und findet sich in einem Folterverliess in Argentinien wieder. Hier schaltet der Roman ein paar Gänge höher. War die Erzählung zuvor noch nah beim klassischen Schelmenroman, mutiert sie nun zum Finanzthriller. Johann, gerettet, will Rache und liefert sich ein Duell mit dem Fürsten. Mit geklauten Daten von Steuersündern, die das Fundament des Liechtensteiner Finanzwunders bilden, will Johann die juristische Verfolgung seiner Peiniger in Argentinien erwirken. Als ihm das nicht gelingt, gibt er die Daten bekannt. Es gebe kein richtiges Leben im Falschen, zitiert er Theodor Adorno. Also müsse das umgekehrt heissen, dass «innerhalb des Falschen das Falsche zu tun, die einzige Möglichkeit ist, das Falsche zu überwinden». So löse sich die Wiederholung des Falschen im Falschen eines Tages im Richtigen auf.
So viel zum Plot.
Doch was genau passiert in Argentinien? Während die Peiniger Johann im Verliess maltraitieren, lässt Benjamin Quaderer die Stimme des argentinischen Grossmeisters Jorge Luis Borges im Untergrund des Textes raunen. Kaum einer wie dieser Literat verstand es, eine gegebene Realität in eine detailgenau und konkret beschriebene andere, eigentlich unmögliche Realität zu überführen: Borges, der Tricksterkönig der literarischen Verschachtelungen und der transzendierenden Wirklichkeiten wie in einem Escher-Bild. Ein wilder Geld- und Unterschriftenwechsel in Barcelona war der gespenstischen Szenerie in Argentinien vorausgegangen: Bankgeschäfte, bei denen sich der zugeschriebene Geldwert von der Materie entkoppelt und Johann selbst den spanischen Staat um Steuergelder betrügt. In Argentinien wird Johann an Leib und Leben bedroht und schliesslich zu einer Unterschrift gezwungen, die wiederum eine Geldverschiebung erwirken soll. Im Zug der Misshandlungen verliert er zeitweilig seine Erinnerung, und damit seine Identität. Zudem fürchtet er, des Sprechens entmächtigt zu werden. Im Folterkeller der globalen Welt droht Johann selbst die Entkoppelung von Körper und Sprache — wie sie zuletzt ironischerweise durch das Zeugenschutzprogramm vollzogen wird.
Es ist das zentrale Thema, das Benjamin Quaderer selbst wie ein Trickster in seinem Roman jongliert: die Entmaterialisierung von Geld und Sprache. Sie lässt sich in der Lebenswelt Liechtensteins beobachten: «Aus dem Kleinstaat war ein Ort des Überflusses geworden, dessen Grundlage nicht mehr die Welt der materiellen Dinge war, sondern das Immaterielle, das, was nur Wert war, ohne Gegenstand zu sein. Ein Zeichen, das sich selbst bezeichnete», schreibt der Autor im Roman. Ähnliches gilt für den Staat und für dessen Repräsentanten. Das einst agrarisch geprägte Land ist mit seinen 11 Dörfern, 160 Quadratkilometern und 30’000 Menschen ein eigentlich verschwindendes Ereignis. 2008, als der Steuerskandal aufflog, weist es jedoch mit Hans Adam II den sechsreichsten Monarchen weltweit auf. Die Erfindung der Stiftung als Rechtsform begründet diese Entwicklung. Dreh- und Angelpunkt ist die Tiefgarage, die das Zentrum von Vaduz komplett untertunnelt und die wichtigsten strategischen Punkte verbindet: «In der Tiefgarage kommen die Praktiken des Liechtensteiner Finanzplatzes zu ihrer Vollendung», schreibt der Autor im Roman. Und: «Wie die Stiftung den Namen des Stifters von seinen Geldern entkoppelt, entkoppelt die Tiefgarage den Autofahrer vom Grund seines Besuchs. Er kann jetzt alles Mögliche sein.»
Alles Mögliche ist auch Johann Kaiser. Er erfindet sich immer wieder neu. Seine wilde Biografie führt ihn vom Waisenhaus bis ins fürstliche Schloss durch die unterschiedlichsten Milieus des Kleinstaates. Mit ausgreifenden Erzählsträngen rund um den Globus pumpt er sein Selbstbild zusätzlich auf — genau wie die weltumspannenden Finanz- und Datenströme den Kleinstaat. So lässt Benjamin Quaderer den Roman zum modernen Nationalepos werden, das über die Figur des Johann Kaiser das Innere des Fürstentums nach aussen kehrt. Das Buch kulminiert in einem Kampf um Deutungshoheit zwischen Hans Adam II und Johann. Im Showdown zwischen Sohn und Ziehsohn von Fürstin Gina führt der Roman den Glanz von Geld und Sprache zusammen.
Mit dem Buch «Für immer die Alpen» löst sich das Falsche im Falschen im Falschen auf und wird so endlich richtig: nämlich grossartige Literatur. Der Roman ist ein übermütiges Fest der Sprache. Benjamin Quaderer wirft sie in die Luft und lässt sie auf der maximalen Spannweite der Deutungszusammenhänge tanzen, dreht und wendet sie, verkehrt sie ins Gegenteil, fächert sie auf und feiert sie: als ebenso grossartig wie gefährlich.
Mit einhelliger Begeisterung haben wir in der Jury — Tanja Graf, Werner Michler und ich — uns von Benjamin Quaderers Roman «Für immer die Alpen» beeindrucken lassen und freuen uns, diesen durchtriebenen Text mit dem Rauriser Literaturpreis für die beste Prosaerstveröffentlichung in deutscher Sprache auszuzeichnen. Benjamin Quaderer gelingt es, mit faszinierender Leichtigkeit, Witz und kompositorischer Souveränität die reale Vorlage in einen durchwegs eigenständigen Erzählkosmos zu verwandeln. Der Roman ist ein Text von grosser literarischer Reife. Die öffentliche Aufmerksamkeit war des Lobes voll, trotzdem ist sie in diesem schwierigen Jahr unter den Möglichkeiten und vor allem unter den Verdiensten geblieben. Wir wünschen dem Autor und dem Buch, der Preis möge Buch und Autor zu weiterer Anerkennung verhelfen und beide über die holperige Gegenwart hinaus ermutigen.
Lieber Benjamin Quaderer, im Namen der Jury gratuliere ich Ihnen sehr herzlich zu Ihrem grossartigen Roman und zu dieser sehr verdienten Auszeichnung.
Rauriser Literaturpreis — Jurybegründung
Diesem Erzähler ist nicht zu trauen, genausowenig wie dem Roman selbst — oder vielleicht gerade doch? Benjamin Quaderers 600 Seiten starkes Debüt «Für immer die Alpen» führt auf durch und durch unzuverlässiges Terrain. Genau wie dessen Held erfindet sich das Buch selbst immer wieder neu. Es beginnt als klassischer Schelmenroman, mutiert zum Finanzthriller, zum postmodern schillernden Vexierstück und entpuppt sich schliesslich als eine Art invertiertes Nationalepos des fürstlichen Kleinstaates, dessen existenzsichernde Adern nach aussen gestülpt die globale Welt umspannen — sei es als Finanz- und Datenströme oder als kühne Erzählstränge.
Der Roman basiert auf der wahren Geschichte des nach wie vor nicht gefassten Finanzdatendiebes Heinrich Kieber, die unter anderem 2008 die spektakuläre Hausdurchsuchung wegen Steuerhinterziehung des damaligen deutschen Postchefs zur Folge hatte. Doch auf der Folie der Realität erschafft Benjamin Quaderer einen durchwegs eigenständigen Erzählkosmos, der gleichermassen mit seiner erzählerischen Konstruktion wie mit seiner literarischen Durchtriebenheit überzeugt.
Mit grosser Leichtigkeit, subtilem Witz und kompositorischer Souveränität jongliert der Autor unterschiedlichste literarische Techniken oder Erzähltraditionen und baut en passant Referenzen an Grössen wie Günther Grass oder Jorge Luis Borges ein. Der Roman ist ebenso unterhaltsam wie tiefsinnig und literarisch ambitioniert. Von feiner Ironie und menschlichem Fatalismus durchzogen zeichnet der 31-jährige Autor in «Für immer die Alpen» ein mutiges Porträt voller kritischer Schärfe seiner Heimat Liechtenstein. Das Debüt zeugt von grosser literarischer Reife. Es ist ein Wurf.
Die Jury: Tanja Graf (Leiterin Literaturhaus München), Werner Michler (Literaturwissenschaftler Universität Salzburg), Anne-Sophie Scholl (Kulturjournalistin und Dozentin, Bern)
Benjamin Quaderer: «Für immer die Alpen», Luchterhand, 592 Seiten
Laudatio im Rahmen der Eröffnungsfeier der Rauriser Literaturtage am 7. April 2021; Foto © Jens Oellerman/Luchterhand