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Gegen die vulgäre Zumutung des Lebens

Vögel gibt es bereits keine mehr und das, was einmal Wetter genannt wurde, ist einem grauen, undefinierbaren Dauerstillstand gewichen. Die Menschen waren kurz sehr wütend und dann verdächtig still. Doch die jugendlichen Hauptfiguren in Sibylle Bergs «GRM» können nicht mehr schweigen – eine Besprechung von Tobias Brunner.

Die Welt, wie sie Sibylle Berg in «GRM: Brainfuck» präsentiert, ist unserer gar nicht so unähnlich: Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer grösser, die Automatisierung killt Arbeitsplätze und Menschen hängen dauerhaft an ihren Endgeräten. In der nahen Zukunft des Romans sind diese Zustände lediglich weiter fortgeschritten: Es gibt praktisch keine Mittelschicht mehr, kaum Arbeit für die Unterschicht und Menschen kleben noch stärker an ihren Endgeräten, eben weil es an Beschäftigung fehlt.

Klar, dass darunter auch die Kindererziehung leidet. Arbeitende Menschen haben zu wenig Zeit, um sich selbst um den Nachwuchs zu kümmern, verdienen aber auch nicht genug, um die Kinderbetreuung auszulagern. Um die Gesundheitsversorgung steht es nicht besser, Menschen sind schlicht zu krank, um sich zu kümmern. Oder zu lethargisch, zu alkoholisiert oder zu tot.

Wundpflaster gegen Einsamkeit

Don, Peter, Hannah und Karen sind solche vernachlässigten Kinder. Elternteile sind aus verschiedenen Gründen nicht anwesend, weshalb auch niemand davon Notiz nimmt, als sie von zu Hause weglaufen. Die jungen Helden gelangen nicht erst dadurch an den Rand der Gesellschaft. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ist tief in ihrer DNA verwurzelt. Zu queer, zu schlau oder zu leise, um gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, gehörten sie schon zuvor zu den Seltsamen, den Anderen. 

Das «Wunder» dieses Buches ist nun, dass sie sich gegenseitig als Aussenseiter erkennen. Nicht selbstverständlich, orientieren sich die seltsamen Kinder «normalerweise» doch stets an der Masse und nehmen einander nicht wahr. Ein weiterer Aspekt ist, dass «jene, die eher als Angehörige von Randgruppen bezeichnet werden», so Sibylle Berg auf Nachfrage per Mail, «oft über eine grössere persönliche Freiheit verfügen». Deshalb interessieren diese sie beim Schreiben mehr. 

Doch auch innerhalb ihrer Gruppe, die als Ersatzfamilie fungiert, fühlen sich Hannah, Karen, Don und Peter nicht gänzlich aufgehoben. Dafür sind die seelischen Wunden zu tief. Die Mission, die sie zusammenhält, lautet entsprechend: «Keiner wird uns mehr verletzen.» Das Mittel, dies zu erreichen ist Rache. Denn anders als die Erwachsenen geben sie nicht denen da oben, Gott oder irgendwelchen Fremden die Schuld. Sie wissen genau, wer ihnen diese Wunden zugefügt hat. Ob ein Rachefeldzug für die erhoffte Genugtuung sorgt, darf bezweifelt werden.

«GRM» zelebriert das Aussenseitertum mit der nötigen sprachlichen Sprengkraft. Das Buch lebt dabei von der gelungenen Darstellung der Hauptfiguren, die so schonungslos wie liebevoll ausfällt. 

Das Ende der Menschheit?

Sibylle Berg kennt die Welt der Endgeräte und allgegenwärtigen Bildschirme. Selbst auf Instagram aktiv, zeigt sich die Wahl-Zürcherin etwa vor Industriebrachen, die sie nach eigener Angabe angeblich gekauft hat, und Grossbaustellen, wo sie, wiederum nach eigener Angabe, «irgendetwas» hinbaut. «GRM» führt vor, wo die so karikierte Ausrichtung auf wirtschaftlichen Wachstum als Universallösung für alle Probleme hinführt. 

Oder sie zeigt «irgendwelche» Werbevideos für technische Gadgets, die das Leben (nicht) vereinfachen, und versieht sie mit dem Label «Aussterben!». Im Roman stellt sie die Frage, ob nach den Berufen auch die Menschen der Automatisierung zu Opfer fallen. Stichwort: Künstliche Intelligenz. Dieses Element gehört genauso zu einer zünftigen Dystopie wie die lückenlose Überwachung und die damit verbundene Ruhigstellung der Bevölkerung. Wobei: Als Dystopie will «GRM»explizit nicht verstanden werden. Im Trailer zum Roman sagt Berg: «Es wird nicht schlimm. Nur – anders.» Aus dem Buch geht hervor: Es wird vielleicht sogar ganz schön, denn, «die Utopie ist wieder wer.» Nur eben nicht für Menschen wie wir.

Kleine Barrikaden

«GRM», der vierzehnte Roman der Autorin, übt Gesellschaftskritik und stellt diese gleichzeitig infrage, etwa wenn im Buch von «ironischen Dystopie-Fotoshootings» die Rede ist oder wenn TV-Sozialdramen, also Dokusoaps, dekonstruiert werden. Sibylle Berg macht sich keine Illusionen: «Politik in Romanform kann ja nur eine Randgruppe erreichen», sagt sie. Und auch dystopische Welterfolge wie die von George Orwell («1984») oder Aldous Huxley («Schöne neue Welt») sind letztlich in ihrer Wirkung begrenzt: «Haben ihre Visionen irgendwas verhindert? Haben sie Menschen zum Demonstrieren gebracht?»

Stärker bewertet Berg, die auch als Dramatikern tätig ist, das verbindende Element von Kunst: «Ich bin bei jeder Arbeit froh, wenn ich einigen Lesenden oder Theaterzuschauern ein kurzes Gefühl von Begreifen oder Ablenkung oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe geben konnte.»  Bei den Jugendlichen in «GRM» entsteht dieses Gefühl durch das Hören von GRIME, der Musikrichtung, die für das Buch tonangebend ist und für dessen Titel Pate stand. GRIME: «Das Benzin in der Musik ist ja gerade, dass sie ohne Anstrengung in der emotionalen Konsumierbarkeit funktioniert. Direkt, sprachübergreifend, auch ohne, dass man die Worte verstehen kann.» Und falls man damit nicht den Weltuntergang verhindert, hatte man wenigstens eine gute Zeit. Das reicht vielleicht auch schon, denn, so Sibylle Berg: «Kunst ist immer nur eine kleine Barrikade gegen die vulgäre Zumutung des Lebens.»

Sibylle Berg: «GRM: Brainfuck». Kiepenheuer & Witsch. 634 S. Link zum Buchtrailer