Kulturelle Diversität ist das grosse Thema der aktuellen Literatur: Schriftsteller:innen erzählen von Existenzen in Übergängen
So sieht die neue Welt aus: Im April sitzt die Autorin Şeyda Kurt mit dem Moderator Deniz Utlu im Berliner Maxim Gorki Theater. Beide sind jung, selbstbewusst, beide türkischstämmig und deutsch. Eine Woche später soll Kurts erstes Buch, «Radikale Zärtlichkeit», in einem grossen Verlag erscheinen. Die Autorin entzaubert darin das Ideal der romantischen Liebe, analysiert den gesellschaftlichen Druck zur Monogamie als heterosexistisches Projekt und schlägt radikal neue Formen privaten und politischen Miteinanders vor. Weder der Staat noch historisch-politische Diskurse sollen definieren, wie wir uns in unseren Gesprächen und Gefühlen verbinden.
Wortgewandt zitiert sie an der vorgezogenen Buchvernissage einen Kanon eigener Autoritäten, von denen das breite Publikum noch nie gehört haben dürfte: bell hooks, Audre Lorde, Eva Illouz, TrịnhThị Minh Hà — lauter Autorinnen und, ach ja, auch Marx. Schauspieler:in Elena Schmidt liest Auszüge aus Kurts Buch vor. Schmidt sieht ebenso maskulin wie feminin aus, was irritierend und anziehend zugleich wirkt, und Schmidts schauspielerische Performance ist grossartig.
Bereits eine Woche nach Erscheinen schnellte «Radikale Zärtlichkeit» auf Platz vier der «Spiegel»-Bestsellerliste, aktuell gibt es das Buch bereits in der dritten Auflage. Im «SZ Magazin» erschien ein grosses Interview mit der Autorin, bei «Zeit Online» ein Auszug. Auch der Moderator Utlu ist kein Unbekannter. Am Gorki Theater kuratiert er Veranstaltungen, seinen zweiten Roman hat der Suhrkamp Verlag publiziert, soeben wurde er mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet: Utlu eröffne für die deutsche Literatur eine Erinnerungsgeografie, die von Hannover bis weit in die Türkei, an die syrische Grenze reiche, so die Jury.
Kulturelle Diversitätist das Thema, das sich in diesem Bücherfrühling in der deutschen Literatur mit aller Macht durchsetzt. In der Schweiz hat man davon noch erstaunlich wenig gehört. Das einzige Buch, das auch hier gross rezipiert wurde, ist «Identitti» von Mithu Sanyal. In ihrem fulminanten Debüt haut die Kulturwissenschaftlerin einem die glitzernden Konzepte der Identitätspolitik um die Ohren und leuchtet sie in ihren Widersprüchlichkeiten aus: Emanzipatorische Politik will Grenzen aufheben. Um dies zu erreichen, operiert sie selbst mit Abgrenzungen wie Schwarz, People of Colour oder White Supremacy. Sanyal zeigt, dass es jedoch eine Rolle spielt, wer, wann und wo im sozialen Machtgefüge spricht; politische Selbstbezeichnungen behaupten einen Raum, um sich Gehör zu verschaffen. Identität dagegen begreift postkoloniales Denken gerade nicht als feste Grösse.
Wider den Integrationsdruck
«Identitti» erzählt von einer deutschen Studentin mit indisch-polnischen Wurzeln. Sie schreibt sich im Studiengang Postkoloniale Theorie ein, fühlt sich dort endlich erkannt und verfällt ihrer charismatischen Professorin. Doch dann stellt sich heraus: Die Professorin gibt sich nur als Person of Colour aus. In Wahrheit ist sie eine Weisse. Ist das nun kulturelle Aneignung und Missbrauch von Privilegien – oder Zuneigung, Solidarität? Der Clou des Romans ist: Er ist durch und durch als Gespräch angelegt — zwischen der Studentin Nivedita und ihrer Professorin, aber auch zwischen Nivedita und der Göttin Kali, die eine Kette aus Männerköpfen um den Hals trägt und beim Sex stets oben liegt, und als Shitstorm auf Twitter, für den die Autorin reale Kommentare einforderte. Sie dreht und wendet die unterschiedlichsten Positionen. Jeder Gedanke bekomme Augen und schaue zurück, heisst es im Buch. So wurde «Identitti» ein kluges, witziges, womöglich das wichtigste Buch dieses Frühlings. Vor allem: Der Roman feiert die Ambivalenz.
Mithu Sanyals Roman ist Teil eines Phänomens. Dem trug etwa das Frankfurter Literaturhaus Rechnung, indem es im Februar ein Festival für kulturelle Diversität unter dem Titel «Wir sind hier» veranstaltete. Bis anhin gab es zwei grosse Themen in der deutschen Gegenwartsliteratur, und beide waren für die Schweiz bedingt von Belang. Da ist zum einen die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, zum anderen die Wiedervereinigung. Und dann gab es auch eine typisch deutsche Befindlichkeitsprosa, die sich mit den Lebensund Liebesnöten eines wohlsituierten Mittelstandes befasst, eine Art Hipster-Literatur aus Berlin-Mitte. Doch jüngst erschien etwa von Lena Gorelik der Roman «Wer wir sind»; Alec Grabovac veröffentlichte sein Debüt «Das achte Kind», Dmitrij Kapitelman «Eine Formalie in Kiew» und Shida Bazyar «Drei Kameradinnen». Bereits im vergangenen Jahr erschienen «Die Sommer» von Ronya Othmann oder «Streulicht» von Deniz Ohde. Alles Bücher, die das Leben zwischen Kulturen verhandeln und sich dem Druck zur Integration widersetzen, jedes anders und auf seine Weise kreativ. Gehen uns diese Bücher über hybride Lebenswelten in der Schweiz nichts an? Oder zeugt es von Ignoranz, dass sie hier kaum aufgegriffen werden?
Es gibt in der Schweizer Kulturkritik eine Tendenz, sich auf nationale Themen zu beschränken. Das hat mit finanziellen Gründen zu tun, mit dem Spardruck in der Medienbranche. Und mit dem Digitalen: Die Artikel ausländischer Zeitungen sind heute nur einen Klick entfernt, manchmal vielleicht eine Paywall. Und klar: Deutschland und die Schweiz haben unterschiedliche Geschichten. Auch unterschiedliche Einwanderungsgeschichten. In Deutschland stellten Türken die grösste Einwanderungsgruppe; Şeyda Kurts Familienbiografie veranschaulicht exemplarisch deren Entwicklung: Kurts Grosseltern kamen als sogenannte Gastarbeitende mit der ersten Einwanderungsgeneration ins Land, nachdem Deutschland mit der Türkei ein Anwerbeabkommen abgeschlossen hatte. Kurts Vater kam mit der zweiten Welle in den 80er-Jahren. Damals hatte die türkische Einwanderung vermehrt politische Gründe, nun kamen auch gut ausgebildete Leute nach Deutschland. In der Schweiz hingegen stammte die grosse Mehrheit der sogenannten Gastarbeitenden in den 50erund 60er-Jahren aus Italien. Mit Menschen aus Deutschland und Ex-Jugoslawien sind Italienerinnen und Italiener heute noch eine der grössten Zuwanderungsgruppen in der Schweiz.
Auch die politischen Landschaften Deutschlands und der Schweiz sind verschieden. Es habe keine vollständige Entnazifizierung stattgefunden, schreibt Kurt. In Deutschland gab es immer wieder rechtsradikalen Terror: in Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen in den 1990er-Jahren, die NSU-Morde in den Nullerjahren, jüngst die Anschläge in Halle und Hanau. Und die AfD sitzt in der Regierung
Unser Albtraum
Das deutsche Innenministerium heisst seit 2018 «Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat», und der neue «Heimatminister» verkündete beim Amtsantritt, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Als Reaktion darauf publizierte eine Reihe von Autorinnen und Journalisten einen Essayband mit dem Titel «Eure Heimat ist unser Albtraum». Die Texte wandten sich gegen einen völkischen Heimatbegriff, der die Realitäten vieler in Deutschland lebender Menschen ausschliesse. Mehrere Autor:innen kritisieren schwerwiegende Versäumnisse in der Aufarbeitung der NSU-Morde. Das Versagen von Medien und staatlichen Behörden deuten sie als rassistische Grundstruktur, die weit in die staatlichen Organe hineinreiche und einen Grossteil der Bevölkerung ohne Schutz lasse. Im Hardcover gibt es das Buch mittlerweile in der zehnten Auflage.
Brennende Flüchtlingsheime kennen wir in der Schweiz zum Glück nicht. Auf der Ebene der Rhetorik allerdings gibt es bei uns durchaus Gruppen, Parteien und Personen, die einen reaktionären Heimatbegriff kultivieren und regelmässig Hass schüren.
Und doch: Literatur, die sich mit Identität befasst, ist bei uns durchaus populär. Sie stammt allerdings vor allem aus dem angelsächsischen Raum, meist aus den USA. Man denke etwa an Zadie Smith, gefeierte Ikone der Literatur über das Zusammenspiel von Sex, Class und Race, an die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison oder an Chimamanda Ngozi Adichie mit ihrem Roman «Americanah». Auch schwarze Autoren wie Colson Whitehead oder der wiederentdeckte James Baldwin sind in den letzten Jahren zu Leselieblingen geworden, wie auch die britische Schriftstellerin Bernardine Evaristo. Die USA mit der Sklavenwirtschaft oder die koloniale Grossmacht England sind historisch und soziologisch weit entfernt von der Schweiz. Die deutsche Literatur, die Herkunft, Heimat und Identität thematisiert, findet in einem stark politisierten und polarisierten Raum statt; viele Autor:innen äussern sich auf Twitter oder in journalistischen Texten dezidiert politisch. Wenn wir diese deutsche Literatur lesen, legt sie uns nahe, uns damit zu befassen, wie Rassismus, Sexismus und Klassimus in die Textur unseres eigenen Denkens und Fühlens eingewoben ist. «Rassistisch sind immer die anderen», diejenigen, die historisch oder geografisch weit weg sind, schreibt Enrico Ippolito, damals Ressortleiter Kultur bei «Spiegel Online», in«Eure Heimat ist unser Albtraum».
Es ist ein Phänomen, das auch der britische Journalist Johny Pitts in seiner Reportage «Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa» beschreibt. Er zeichnet in seinem Buch Spuren der kolonialen Vergangenheit nach und wie sich diese in den Lebenswelten unterschiedlichster Gruppen in Europa zeigen. Zu Beginn seiner Reise beobachtet er in Paris, wie Schwarze aus den USA gefeiert, doch französische Menschen mit dunkler Haut herabgesetzt werden. Es ist der Auftakt seiner Recherche über spezifische Ausformungen von Rassismus und das Leben schwarzer Communities in Europa. Jüngst hat Johny Pitts in Lausanne dafür den Europäischen Essaypreis Charles Veillon entgegengenommen, zuvor erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Sein Buch mischt die Genres Reportage und Essay und vermittelt eine Fülle an Wissen und präzisen Beobachtungen – zudem ist es hervorragend erzählt. In der Schweiz fand es bisher trotzdem kaum Beachtung. Dabei wissen wir inzwischen: War die Schweiz auch keine Kolonialmacht, so war sie doch mit den umliegenden Kolonialmächten verflochten, wirtschaftlich und kulturell. Und sie hat ökonomisch von ihren Verbindungen zum NS-Regime profitiert – mehr, als uns heute lieb ist.
Kein Land
Aber auch die Schweizer Literatur erzählt von hybriden Lebenswelten. In Literaturkreisen finden diese Bücher Anerkennung, doch die Diskurse drängen weniger in die Öffentlichkeit hinein als in Deutschland. Martin R. Dean mit «Verbeugung vor Spiegeln» zum Beispiel oder Ivna Žic mit «Die Nachkommende», auch Alexandre Hmine mit seinem Debüt «Milchstrasse», das mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Dorothee Elmiger nähert sich in «Aus der Zuckerfabrik» dem Thema aus einem anderen Blickwinkel. Ausgangspunkt ihres Buches ist eine Versteigerung in Spiez im Berner Oberland in den 1980er-Jahren. In dieser Szene glaubt sie, Wahrnehmungen von Eigenem und Fremdem, Auf- und Abgewertetem in gegenläufige Beziehungen zueinander treten zu sehen. Und greift die Fäden auf: In einem offenen Textgefüge skizziert sie mit Auszügen aus historischen Texten die Entstehung und Verfestigung patriarchaler, kapitalistischer und kolonialistischer Strukturen.
Die neue Literatur weicht die Kategorien von Zugehörigkeit und Andersartigkeit auf. Sie widersetzt sich dem Druck zur Anpassung und erzählt von Existenzen dazwischen. «Ich habe kein Land. Ich lebe an Orten und setze mich mit ihnen auseinander. Nicht weil ich nicht an Gemeinschaftssinn glaube, sondern gerade weil ich es jenseits von abstrakten Gebilden wie Volk und Vaterland tue», schreibt Asal Dardan in ihrem autobiografischen Essayband «Betrachtungen einer Barbarin». Der Titel lässt sich in zwei Richtungen lesen, auch im Buch ist Dardan mal die Betrachtete, mal die Betrachtende. Mit detailgenauem Blick lotet die Autorin mit iranisch-assyrischen Wurzeln die Dynamiken in Zwischenräumen aus. «Das ist das Seltsame am Leben zwischen mehreren Welten», schreibt sie, «es bietet einem keine ganzen, sondern aus Phantasien und Sehnsüchten gebaute Fastorte.» Dardan kam als Baby nach Deutschland, die Eltern waren aus politischen Gründen aus Teheran geflohen, unter dem Schah zählten sie zur Elite. Eine solche Biografie findet in Zuordnungen zu Migrationshintergründen meist keinen Platz. Dardan sagt: «Heute fühle ich mich kulturell sicherer, weil ich nicht mehr das Bedürfnis habe, mich irgendwo zu verorten und festzuschreiben.»
Hengameh Yaghoobifarahs Debütroman «Ministerium der Träume» ist eine queere Actiongeschichte zwischen Provinz und Grossstadt, ein Thriller im Land der «Pferdemädchen» und Nazi-Gangs, die Protagonistin eine geballte Ladung Wut. Allerdings reagiert die Heldin Nasrin ziemlich oft verpeilt. Zu Beginn des Romans stirbt ihre Schwester, und es bleibt unklar: War es ein Unfall, Selbstmord oder Mord? Die Polizisten, die Nasrin den Tod der Schwester mitteilen, sind wider Erwarten nett; der Ladendetektiv, der ihre Nichte des Diebstahls verdächtigt, behält leider recht – und ihre Nichte liegt nicht ganz falsch, als sie sagt: «Manchmal machst du ein bisschen extra auf Opfer, Tante Nas.» Der Roman knallt eine Lebensrealität «jenseits von Deutschness» auf den Tisch, ohne auf Zwischentöne zu verzichten. Nasrin arbeitet als Türsteherin in einem Lesbenclub. Sie sagt: «In Berlin konnten wir sein, wer wir waren. Fremde Menschen waren nicht mehr per se eine Gefahr. Partys waren Orte der Freiheit und des unbeschwerten Hedonismus. Endlich wirklich ankommen in Europa.» Leider stimmt auch das nicht ganz.
Als Journalist:in schreibt Yaghoobifarahscharfe politische Kolumnen und ist Mitherausgeber:in des Essaybands «Eure Heimat ist unser Albtraum».
Sharon Dodua Otoo gewann vor fünf Jahren den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Letztes Jahr hielt sie die Preisrede. Darin sprach sie sich explizit für die gesellschaftspolitische Rolle aus, die Literatur spielen müsse. Otoo hat ghanaische Wurzeln, wuchs in London auf; heute lebt sie in Berlin. In ihrem Romandebüt, «Adas Raum» treten vier Adas auf. Die erste Ada lebt im Ghana des 15. Jahrhunderts, als die «sogenannten Entdecker» kommen, die zweite Ada nimmt die Mathematikerin Ada Lovelace im England des 19. Jahrhunderts zur Vorlage, die dritte Ada ist eine Zwangsprostituierte in einem KZ im Zweiten Weltkrieg und die vierte Ada eine schwangere Schwarze auf Wohnungssuche im Berlin der Gegenwart.
Otoo erzählt aus wechselnder Perspektive und lässt auch mal einen Reisigbesen sprechen, einen Türklopfer oder Reisepass. Formal und inhaltlich kühn vermisst das Buch den, nun ja, eingeschränkten Handlungsraum der gleichnamigen Frauen und legt Verbindungen zwischen ihnen oder dem ihnen zugeordneten Raum nahe. «Wir sind alle im Werden», die Übergänge sind fliessend, heisst es im Roman.
Es ist kein Zufall, dass viele der Bücher sich in feministischem, postkolonialem und kapitalismuskritischem Denken situieren. Mittlerweile existiert eine lange Tradition solcher Perspektiven, bis anhin führte sie ein Nischendasein. Das Theater jedoch sei schon länger offen für Geschichten von Marginalisierten, schreibt Utlu.
Das gilt auch für die Schweiz, besonders für die freie Szene, etwa das Zürcher Theater Gessnerallee, oder für Festivals. Bewegungen wie #Me-Too und #BlackLivesMatter oder die Polarisierung in Deutschland scheinen das Selbstvertrauen der Schreibenden zu stärken und haben Resonanz bis in die Mitte der Gesellschaft erzeugt. Damit wird das Thema auch kommerziell interessant: Viele Bücher über kulturelle Diversität erscheinen in grossen deutschen Verlagen.
«Identität ist ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens», zitiert Asal Dardan in ihrem Buch «Betrachtungen einer Barbarin» den jamaikanischbritischen Soziologen und Mitbegründer der «Cultural Studies», Stuart Hall, dessen Autobiografie letztes Jahr auf Deutsch erschien. Es ist ein Verständnis von Identität jenseits festgeschriebener Kategorien, das sich im Austausch mit dem Anderen artikuliert und transformiert. Genau wie die Kunst. Und so zeigt sich in der aktuellen deutschen Literatur: Diversität wirkt wie eine Frischekur, inhaltlich, formal und sprachlich.
Das Magazin no. 25, 26. 6. 2021