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«Ich bin nicht viel mehr als meine Erinnerungen»

In seinem neuen Roman fliessen viele Themen aus früheren Werken zusammen. Ein Besuch bei Peter Stamm in seinem Büro in Winterthur

Ein Fussweg schwingt sich den Hügel hinauf und taucht in einen kleinen Wald ein. Laub liegt am Boden, Ranken hängen von den Bäumen, oben auf dem Hügel steht eine alte Villa, die als Heim für Demenzkranke genutzt wird – für Leute, die ihre Erinnerungen verloren haben. Peter Stamm wohnt gleich dahinter. Nicht zum ersten Mal besucht man den Autor in seinem Büro. Doch zum ersten Mal fällt auf, wie gut die Umgebung zu seinem Roman passt. Ja, und vielleicht nicht nur zu dem neuen. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» heisst das Buch, das kom- mende Woche erscheint. Es ist ein schmaler Band, geschrieben in der für Stamm typischen Sprache, wo jedes Wort passt und keines zu viel ist, und gerade dadurch ein unwiderstehlicher Sog entsteht.

Hinein in eine geheimnisvoll schwebende Welt

Doch der Inhalt des neuen Buches überrascht. Mit wenigen Sätzen führt der Autor in eine geheimnisvoll schwebende Welt, die an Bilder und Vorstellungen der Romantik des 19.Jahrhunderts erinnert und das Irrationale feiert. «Sie besucht mich oft, meist kommt sie in der Nacht»: Mit diesem Satz lässt Stamm den Roman beginnen. Er, der spricht, ist ein alter Mann, sie eine Frau, die ihre Jugend behalten hat. Es geht um die Zeit, die verrinnt, und um Bilder, die aus der Erinnerung auftauchen. Dar- unter jene lange zurückliegende Nacht, in der er ihr seine Geschichte erzählte. Eine Geschichte, die auch ihre war. Zugleich ist es die Geschichte, die wir lesen. «Komm doch!, ruft sie. Komm zu mir!» Und führt damit in eine tiefere Schicht des Romans. Wer ist sie? Ein Symbol? Eine Erinnerung? Eine reale Figur? Oder eine Figur vom Roman im Roman?

«Die Romantik hat mich schon immer interessiert», sagt Peter Stamm. «Sie kommt auch in meinen früheren Büchern vor, nur hat man das vielleicht nicht gemerkt, wegen der zurückgenommenen Sprache.» Sein letzter Roman «Weit über das Land» führte in eine erkennbar romantisch gefärbte Welt. Es ging darin um einen Mann, der aus seinem Leben hinausläuft und damit auch den realistischen Lebenszusammenhang verlässt. Doch was interessiert den Autor am Irrationalen? Es sei keine bewusste Wahl, sagt der 55-Jährige. Die Romantik entstand in der Zeit der Industrialisierung als Sehnsucht nach der vorindustriellen Welt, die zer- stört wurde. Das wiederholt sich heute mit der Digitalisierung. Die Zeitungen sind voll von Berichten über künstliche Intelligenz und da- rüber, dass sich der Mensch innert kürzester Zeit überflüssig machen wird. «Das wird nie so sein. Aber es lenkt den Blick auf das, was nicht rationalisierbar ist. Es ist das Gebiet der Kunst.»

«Die Digitalisierung lenkt den Blick auf das, was nicht rationalisierter ist. Es ist das Gebiet der Kunst.»

Sein neues Buch findet zumeist in der Nacht statt, ein Friedhof spielt eine Rolle, die Unwirtlichkeit einer Stadt und die Natur, die zurückkommt, Stillleben tauchen auf und Jagdmotive: Bilder, die der Symbolik des 19. Jahrhunderts entsprechen. Wie aktuell sind sie heute noch? Peter Stamm sitzt in seinem Arbeitszimmer am Fenster, neben ihm ein Kachelofen, davor auf einem Hocker eine Teekanne. Er scheint erstaunt über die Frage. «Den Friedhof gibt es in Stockholm, es ist ein starker Ort, den ich einfach zufällig entdeckt habe.» Und Jagdmotive seien schon in frü- heren Texten von ihm vorgekommen. Aber: «Die Jagd ist ein aktuelles Thema. Mode wird mit Jagdmotiven inszeniert, Steinzeitdiät wird ausgerufen oder der Trend, head-to-tail, also alles vom Tier zu verwenden, oder genauso die Gegenbewegung, der Veganismus.» Er überlegt. «Wenn man sich in eine romantische Welt begibt, verändert das den Blick», sagt er langsam. Er sei wegen Lesungen in Stockholm gewesen. Der Regisseur, der sein Debüt «Agnes» verfilmt habe, lebe in der Stadt, und auch die Schauspielerin, die in der Verfilmung Agnes verkörpere, habe sich damals dort aufgehalten. «‹Agnes› lag irgendwie in der Luft.» Und er habe schon seit langer Zeit wieder einmal ein Buch schreiben wollen, das ähnlich konzentriert und in sich verwoben sei wie sein erster Roman.

Tatsächlich erinnert das neue Buch an «Agnes». In Stamms Debüt von 1998 ging es um eine Figur, die sich einen Text wünscht, der schliesslich zum Skript für ihr Leben wird. In «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» lässt Stamm die eigentliche Geschichte auf dem Stockholmer Friedhof beginnen. Dort hat sich der Protagonist, Christoph, mit einer Frau verabre- det, die ihn an seine Jugendliebe Magdalena erinnert. «Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen», hatte er ihr in einer Nachricht geschrieben. Christophs Geschichte handelt davon, wie er seinem jüngeren Ich begegnet war. Aber ist nicht auch die Frau eine Doppelgängerin seiner Magdalena? Sie nennt sich Lena, hat einen Freund, den sie Chris nennt, und ihre gemeinsame Geschichte weist eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit der, die sie gerade erzählt bekommt.

Konfrontation mit seinem jüngeren Doppelgänger

Peter Stamm schreibt in einer raffinierten Struktur von Rückblenden, die realistisch anmuten, sich aber bald in der Fiktion auf lösen. Zum Beispiel, wenn er seinen Erzähler mit seinem jüngeren Ich zusammenführt und die beiden miteinander streiten lässt. «Es ist wie ein Bild des Grafikers M. C. Escher», sagt Stamm. Das passt. Sein Text lässt sich durchaus mit den Bildern von ineinanderverschränkten Treppen, die einen Raum immer wieder aus anderer Perspektive erscheinen lassen, vergleichen. Oder auch mit Eschers Grafik von zwei Händen, die sich wechselseitig zeichnen. Macht das der Autor, denkt er an Bilder beim Schreiben?

«Unter meinen Freunden sind mehr Musiker und Maler als Schriftsteller», sagt Stamm. «Man befindet sich nicht in direkter Konkurrenz, das macht es einfacher. Aber der Prozess ist derselbe.» Ob ein Buch oder ein Bild daraus entsteht, ist eine Frage der Technik. Ein Freund von ihm projiziert Fotos auf eine Leinwand, was zu einer Verdoppelung führt. Peter Stamm dreht sich um, schaut auf das Bücherregal hinter sich, wo eine ganze Reihe Reclam-Bändchen steht, schaut zu einem anderen Bücherregal, schliesslich zieht er einen schmalen Band hervor. Kleine, präzis gezeichnete Bilder mit zumeist häuslichen Szenen finden sich darin. Und immer wieder verschwimmen die Szenen in Unschärfen.

Der Stil ist das Universum, in dem man sich bewegt

Auch Peter Stamm verwendet in seinem Roman Überblendungen und Unschärfen. Doch worum geht es eigentlich in dem Buch? Viele Themen, die aus früheren Werken bekannt sind, tauchen darin auf, fast könnte man sagen, der neue Roman sei ein Konzentrat seines Schaffens. «Das war auch ein Spiel», wehrt der Autor ab und lächelt. Aber: «Ein Stil ist nicht nur die Sprache, sondern auch der Inhalt, das Universum, in dem man sich bewegt.» Er überlegt. Es gehe um den Blick auf das eigene Leben. Erinnerungen würden sich verändern, sie stimmen nicht genau mit der Realität überein. Und sie machen einen grossen Teil der Identität aus, sei es von einer Person oder von Beziehungen, von Familien. Man erzähle sich, wie man sich kennen gelernt habe, aber man verändere diese Geschichten und bringe sie in Übereinstimmung , indem man sie sich immer wieder erzählt. «Ich bin nicht viel mehr als meine Erinnerungen.»

So erscheint «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wie eine kunstvolle Reise durch ein Leben. Das Verstreichen der Zeit taucht als Motiv immer wieder auf. Zugleich ist die Zeit aufgehoben, das Ich begegnet sich selbst in verschiedenen Lebensaltern, schaut wechselweise in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Wie alle seine Werke hat Peter Stamm auch diesen komplex konstruierten Text Szene für Szene geschrieben, «wie ein Lebewesen, das wächst». Das Buch umfasst nur 160 Seiten. Je mehr Handlung es gebe, desto kürzer müsse der Text sein, sagt der Autor. Es ist wie eine kristalline Skulptur, deren Kern verborgen bleibt. Ja, und was ist es eigentlich, was da aus dem Inneren schimmert?

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In seinem neuen Roman fliessen viele Themen aus früheren Werken zusammen. Ein Besuch bei Peter Stamm in seinem Büro in Winterthur

Peter Stamm: «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer, 160 Seiten

publiziert in Sonntagszeitung, 18. Februar 2018. Bilder © Sebastian Magnani