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Im fremden Land mit dieser Marshmallow-Sprache

Hochaktuell und jetzt erstmals auf Deutsch zu lesen: „The Bern Book“ des amerikanischen Schriftstellers Vincent O. Carter

Seine Ankunft in Bern beschreibt er so: »Der Bahnhof war ein altertümliches, malerisches Gebäude und in seiner Bescheidenheit auf sentimentale Art einladend. Gelbe, mit Gepäck beladene Elektrowägelchen flitzten wie lauter kleine Pudel hin und her. Arbeiter in blauen Kitteln, die aussahen wie Kleider, kümmerten sich um den Zug wie pingelige Frauen um ihre Nähmaschine. Die bunten Plakate mit Werbung […] überzeugten mich davon, dass ich mich in einem fremden Land befand, vor allem angesichts der jüngsten Erfahrung mit dieser Marshmallow-Sprache.«

Es ist das Jahr 1953. Nach Stationen in Paris, Amsterdam und München kommt der 29-jährige US-Amerikaner Vincent O. Carter nach Bern. Er will hier Freunde besuchen. Doch aus den geplanten drei Tagen werden dreißig Jahre. Er bleibt bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1983.

Vincent O. Carter wuchs in der schwarzen Unterschicht in Kansas City im Bundesstaat Missouri auf. Als er 1924 geboren wurde, waren seine Eltern selbst noch Teenager. Über den Atlantik kam er, um Schriftsteller zu werden. Mitte der 1950er-Jahre kündigte sich in der Berner Szene ein kultureller Aufbruch an. Beliebter Treffpunkt war das Café du Commerce an der Gerechtigkeits-gasse. Nach 22 Uhr, wenn die Tische wieder frei wurden, sei dort für die Boheme Wein mit Brot und rohen Zwiebeln aufgetischt worden, erzählt Lieselotte Haas, die langjährige Lebenspartnerin von Carter. Nach Beizenschluss zog man gern in ein privates Haus, um weiterzufesten. Carter sei in den Künstlerkreisen in Bern beliebt gewesen, sagt die heute 87-jährige Haas: »Die Leute hielten Vincent für einen guten Typ, mit dem man feiern konnte. Sie schätzten seine Jazz-Platten und seine Bücher. Aber als Künstler nahmen sie ihn nicht ernst.«

The Bern Book beginnt mit einem Beizengespräch. Zum Auftakt lässt Vincent O. Carter sein Alter Ego von seinen Irrfahrten durch die europäischen Städte erzählen. Zehn Jahre zuvor war er als Soldat der US Army in der Normandie gelandet und in Paris als Befreier gefeiert worden. In Frankreich drängten die Leute ihn, den schwarzen Mann, ihre Töchter zu heiraten. Als er 1953 erneut dorthin zurückkommt, will ihm niemand ein Zimmer vermieten, und an den Wänden liest er die Parole »Amis raus!«. In Amsterdam erschüttert ihn ein Besuch in den Ruinen des jüdischen Ghettos. In München macht er sich auf die Suche nach einem Schulkameraden. Doch er findet nur Spuren, die davon erzählen, wie dieser an der Feindseligkeit in der Stadt zugrunde ging.

Auch in Bern erhält Carter zunächst kein Hotelzimmer. Umso größer ist seine Freude, als er erkennt, dass die Zimmer tatsächlich ausgebucht sind, weil die Stadt ihre 600-jährige Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft feiert. In der Wohnung von Freunden beobachtet er einen Umzug durch die Altstadt. »Aus allen Ladenfenstern und Hotelfenstern ragten Köpfe wie Büschel von rosa Blumen«, schreibt er: »Von diesen Fenstern sah ich die Geschichte der Stadt Bern in Gestalt eines Festzugs vor mir. Es war wie eine Kindheitserinnerung, die aus den Seiten der Artuslegende heraustrat.«

Und doch hat Carter schließlich Schwierigkeiten, ein Zimmer zur Dauermiete zu finden oder eine feste Freundin. Die Frauen tanzen gerne mit ihm, aber bei Tageslicht wollen sie sich nicht mit ihm in der Öffentlichkeit zeigen. Was würden die Leute sagen! Er führt mit den Bernern lange Gespräche über die Rassentrennung in den USA. Parallelen zur Schweiz wollen diese jedoch nicht erkennen. In Bern sei man sei bloß »empfindsam« gegenüber Dingen, die »anders« seien und »nicht aus Bern«. 

Lieselotte Haas lernt Carter kennen, als er bereits zehn Jahre in der Stadt lebt. Auch ihre Mutter habe zunächst nicht gewollt, dass die Tochter einen schwarzen Mann nach Hause bringe – unverheiratet waren beide noch dazu! Als Carter die Gelegenheit erhält, für das Radio eine Sendung über schwarze Musik zu schreiben, darf er nur Stücke vorstellen, die das weiße Stereotyp von schwarzer Musik bestätigen. Viel lieber als Negro-Spirituals würde Carter die moderne Musik einer Marian Anderson spielen. Wobei er die Gesellschaft in identitätspolitische Dilemmata verstrickt: »Wenn es dieser großartigen Frau gelingt, schwarze Musik auf die Ebene ›wahrer‹ Kunst zu erheben, wie kann ich dann ihre Vortrefflichkeit auf ihre Rasse beschränken?«

The Bern Book wurde 1957 fertig. Wie James Baldwins Essay Stranger in the Village, den dieser vier Jahre zuvor im Walliser Bergdorf Leukerbad verfasste, handelt Carters Buch vom subtilen Rassismus, der die heutigen Debatten prägt. Der deutsche Titel lautet denn auch passend Meine weisse Stadt und ich. Er lenkt den Fokus auf die Beziehung zwischen Carter und der Stadt. Im Vorwort skizziert der Autor diese dialektische Dynamik wie folgt: »Ein Übergang von dem Geisteszustand, in dem ich mich als von Natur aus anders als andere (›weisse‹) Menschen betrachte, zu einem Zustand, in dem dieser Unterschied verschwand, nur um dann peinlicherweise in Form einer neuen und subtileren Illusion wieder aufzutauchen, nämlich der Illusion von mir selbst als ein von allen anderen unterscheidbares Wesen und der weitere Übergang in eine Verfassung, in der meine neu entdeckte Besonderheit sich als die grösste aller Illusionen erwies und ich mir schliesslich lediglich als Bewusstseinszustand offenbart wurde, als blosser Gedanke von mir selbst, ein Umstand, den ich mit allen anderen Wesen im Universum teile.«

Aber das Buch ist keine trockene identitätstheoretische Abhandlung. Es ist literarische Avantgarde. Ein Ereignis, nicht bloß ein Kuriosum. Carter schreibt humoristisch überzeichnete Anekdoten mit melancholischem Unterton, philosophische Betrachtungen, Abhandlungen über Kunst und Exkurse über die Sicherheitsfixierheit der Schweizer. Er befasst sich mit der Unterdrückung der Frau, der Arbeitssituation in einem Tearoom oder dem Umgang der Schweiz mit ihren Künstlern. 

Doch wie seine Musikauswahl für die Radiosendung, war auch Carters Text nicht das, was man von einem schwarzen Autor erwartete. »Sein Schaffen entzieht sich einer präzisen Definition«, sagt die Schweizer Anglistin Anna Iatsenko, die sich für die Aufnahme von Carters Nachlass in ein professionelles Archiv einsetzt. In all seinen Aktivitäten habe er an den Rändern der etablierten Codes angesetzt. »Deshalb brauchen wir seine Kunst heute, da wir uns an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte befinden und solch visionäre Stimmen aus der Vergangenheit gehört werden müssen«, sagt Iatsenko. 

1970 schreibt der französische Kulturwissenschaftler Herbert R. Lottman in einem Artikel: Von einem Schwarzen erwartete man einen politisch engagierten Text, wie sie im Umfeld der Bürgerrechtsbewegung in den USA entstanden. Lottmans Aufsatz ist es, der dazu führt, dass Carters The Bern Book zwei Jahrzehnte nach seiner Fertigstellung in New York erstmals auf Englisch publiziert wird. Doch das Buch bleibt ein shadow book: Es wird kaum wahrgenommen.

In den 1970er-Jahren hat sich Carter der Spiritualität zugewendet, die sich im Bern Book bereits ankündigt. 1974 reisen seine Lebensgefährtin und er nach Indien in den Ashram des Swami Muktananda, des Erfinders des Siddha Yoga. »Da begann der zweite Teil unseres Lebens«, sagt Lieselotte Haas. Sie war Tänzerin am Stadttheater Bern, hatte Modern Dance gelernt und später in Paris Pantomime, bei einem Schüler von Marcel Marceau. Nun wurde sie eine der ersten Yoga-Lehrerinnen in Bern, und Carter meditierte. 

Im Wohnzimmer der kleinen Dachwohnung von Liselotte Haas steht noch immer der mit grünem Samt überzogene Lehnstuhl ihres damaligen Partners. Der Blick durchs Fenster fällt auf die Aare. Wie ein abstraktes Gemälde reiht sich der Ausblick in die Bilder an der Wand ein. Als sein Erfolg als Schriftsteller ausblieb, fing er nämlich an zu malen: ausdrucksstarke Gesichter, zuweilen nur aus einer Linie bestehend, oder Grafiken mit ornamentaler Struktur. 1975 werden seine Bilder im Kunstmuseum Bern ausgestellt, neben Meret Oppenheim, Erica Pedretti und Otto Tschumi.

Sein Geld verdiente er als Englischlehrer. »Vincent hat die Menschen geliebt!«, sagt Lieselotte Haas. »Erzähl mir von dir! Erzähl mir von deinen Träumen!«, habe er die Frauen aufgefordert. Wer in der damaligen Zeit, fragt Lieselotte Haas, habe schon solches zu Frauen gesagt?!

Vincent O. Carter: Meine weisse Stadt und ich. Das Bernbuch, Limmat Verlag, Zürich; 440 S.

Publiziert in Die Zeit Schweiz, 7. Oktober 2021.