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Im Netz der Obsessionen: Simone Meier über Liebesfantasien in einer genderdestabilisierten Welt

Liebesfantasien aller Art in einer genderdestabilisierten Welt: Simone Meier zieht in ihrem dritten Roman «Kuss» tief hinein in einen spleenigen Schlund

«Willst du nicht lieber einen normalen Text schreiben?», fragt sie gleich zu Beginn beim Treffen. Voilà! Schon ist man mittendrin im Schlamassel, wenn eine Journalistin eine andere Journalistin trifft, eine Feministin eine andere Feministin. Klar, ein Text, der ein paar Aussagen mit ein paar Inhaltsangaben verwebt, ist die naheliegende Form, den neuen Roman einer nicht allzu bekannten Autorin vorzustellen. So aber denkt man sich: Diese Simone Meier ist eine spannende Frau, sie hat etwas zu sagen, jetzt geben wir Gegensteuer und drücken ein paar prägnante Aussagen in Interviewform auf die Seite – das Interview ist die Königsdisziplin, es erhält am meisten Aufmerksamkeit und noch immer sind es viel mehr Männer, die in dieser Form über Gott und die Welt, ihre Welt, reden dürfen.

Gerade diesbezüglich gäbe es über die Welt der Simone Meier einiges zu sagen. Sie hat jüngst an einem weiblichen Bildungskanon mitgearbeitet, seit eine neue Initiative Wikipedia-Einträge über Frauen forciert, hat sie einen eigenen Eintrag, sie wurde auf den Schweizer Seiten der «Zeit» als eine von 19 Frauen vorgestellt, die im Jahr 2019 Grosses vorhaben. Die frühere stellvertretende Leiterin des Kulturressorts und Frauenbeauftragte beim «Tages-Anzeiger» arbeitet seit fünf Jahren beim schrillen Online-Newsportal «watson», bewegt sich geschmeidig zwischen E und U und schreibt schmissige, scharfe Texte – ihre Kolumnen zum Beispiel: «Glamour mon amour» in dieser Zeitung. Genug Themen für ein grosses Gespräch. Doch klar – bei einem Interview bliebe das Buch, die Kunst auf der Strecke.

Sensible «Schneeflöckli»

Also gut, sprechen wir über die Geschlechterrollen in ihrem Buch. «Das stand für mich nicht im Vordergrund», sagt Simone Meier entschieden. Nicht? «Kuss» erzählt von Yann und Gerda. Die beiden sind in ihren Dreissigern. Der Zufall will es, dass Gerda ihren Job verloren hat. Der Zufall will es auch, dass die beiden gerade in ein Haus in einem Einfamilienquartier gezogen sind. Und – ist das auch Zufall? – beide fühlen sich eigentlich ganz wohl, Yann sehnt sich gar nach einem Kind – nur wissen sie, dass diese Situation gendertechnisch gesehen inakzeptabel ist.

Das sei etwas, was sie bei ihren jüngeren Redaktionskollegen beobachte, sagt die 48-jährige Autorin: Die sogenannte Generation «Schneeflöckli» sei sehr sensibel, gerade was Geschlechterrollen angehe. Gleichzeitig sehe sie bei ihnen eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach traditionellen Werten. Viele wollten früh eine Familie gründen, ein Nest bauen, weil die Welt so hart und ruppig geworden sei. Gerda im Buch entwickelt eine eigentliche «Objektliebe» zum Haus und macht es nach ihren Vorstellungen hübsch und wohnlich. Als es nichts mehr hübsch und wohnlich zu machen gibt, zerstört sie es langsam, und fängt wieder von vorn an – ganz in der Art des «Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms», um die Liebesbeziehung hinauszudehnen. «Haus-Frau» – das Wort mit dem verdoppelten Umlaut im Hochdeutschen fasziniere sie, sagt Simone Meier. Und lässt sich einen kurzen Moment vom Klang davontragen.

Die symbiotische Verschmelzung von Frau und Haus ist nicht Gerdas einziger Spleen. Noch durchgeknallter ist ihre wachsende Obsession für den Arbeitskollegen und Freund ihres Mannes, für Alex – ihn und seine WG-Kolleginnen und vor allem den Obermacker F. hat Simone Meier aus dem Vorgängerroman «Fleisch» wiederbelebt, doch dazu später mehr.

Was für Projektionen entwickeln Leute, die sich nur in der Imagination begegnen? Die Autorin hat einiges über virtuelle Liebe im Zeitalter von Facebook, Dating-Chats und Online-Plattformen recherchiert. «Im Grunde stricken diese Leute an einem Roman», sagt sie. Ihre Liebe finde nur im Kopf statt. Sie sei eine Übersteigerung ohne reale Basis, häufig aber mit fatalen Auswirkungen auf die Realität.

In der Literaturgeschichte gibt es dafür Vorbilder: das AndersenMärchen «Die kleine Meerjungfrau», Goethes «Werther», in gewisser Weise auch «Anna Karenina» und «Madame Bovary». «Die ultraromantische Liebesgeschichte der kleinen Meerjungfrau, die alles aufgibt, selbst ihre Erscheinungsform, den Fischschwanz, und ihr Element, das Wasser, hat mich schon als Kind unheimlich fasziniert.» Und klar, der Wille, sich auszuliefern, der Verlust des Selbstwertgefühls, die grundlegende Erschütterung im Begehren: All das erinnert an die traditionelle weibliche Rolle. «Aber für einen Mann ist das kaum anders», so die Autorin. Im Vorgängerroman «Fleisch» hatte sie eine tragische männliche Liebe verhandelt.

«Dirty old woman»

Gerda begegnet Alex, ihr romantischer Spleen entzündet sich aber vor allem an Textnachrichten – und an dem titelgebenden Kuss, von dem man allerdings nicht so genau weiss, wieweit er tatsächlich stattgefunden hat. Doch Gerda ist nicht die einzige Figur im Roman, die sich von ihren Träumen davontragen lässt. Auch der gute und korrekte Yann lässt sich plötzlich auf Fantasiewelten ein. Und dann ist da noch die alternde Journalistin Valerie, die Simone Meier, wie sie sagt, «nah» an ihrer eigenen Person gezeichnet hat. «Sie hatte eine genaue Vorstellung davon, was einst auf ihrem Grabstein stehen sollte: ‹Dirty old woman›», liest man im Roman. Valerie ist eine, die sich selbst für ihren «altbackenen Moralismus» dankt, mit dem sie die Welt von heute immer noch ganz gut erfassen kann. Sie hat eine zynische Distanz entwickelt und kommt mit ihrer Abgeklärtheit einigermassen souverän durchs Leben. So kann sie auch eine kumpelhaft herzliche Freundschaft mit dem Obermacker F. pflegen. Und zuletzt lässt die Autorin sie gar in einer Glanz-und-Gloria-Silvestershow triumphieren. «In einer solchen Show muss eine Frau einzig schön sein, keine Frage!» Sie lacht und sagt dann: «Dieser Triumph ist die ganz persönliche Fantasie der Simone Meier.» Sie selbst sei gar nicht fürs Fernsehen gemacht.

Ihre Welt ist das Schreiben. Einen nicht unwesentlichen Anteil daran hat der Lyriker und Erzähler Klaus Merz, der wenige Tage nach ihrer Geburt ihr erster Babysitter war. Er brachte die Literatur und das Schreiben mit grosser Selbstverständlichkeit in das dörfliche Leben des Mädchens, das in den 1970er-Jahren im aargauischen Zeiningen aufgewachsen ist.

Heute geniesst Simone Meier die quirlige Welt auf der Redaktion ebenso wie den Rückzug ins literarische Schreiben. «Alles, was mit Sprache zu tun hat, ist enorm flexibel und dehnbar. Man kann unendlich viel ausprobieren mit dem Sound oder dem Rhythmus und Atmosphären verschieben, indem man ein Wort weglässt oder ändert. Das ist grossartig.» Im Roman «Kuss» schafft Simone Meier ein Netz von Figuren, die sich unterschiedlich recht und schlecht in einer genderdestabilisierten Welt durchschlagen. Wenn man an dem kolumnenartig temporeichen Roman etwas kritisieren kann, dann vielleicht, dass er ein wenig unentschieden zwischen Psychogramm und Gesellschaftspanorama schillert.

Simone Meier: «Kuss», Kein&Aber, 256 Seiten.

publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 2. Februar 2019. Bild © André Wunstorf