Die Poesie der Walmart-Parkplätze, der Intensivstationen, der Fressorgien mit literweise Bier und Beef Jerky? Scott McClanahan kann das. Sein Buch «Sarah.» ist viel mehr als eine Liebes- und Trennungsgeschichte. Eine Entdeckung
Er nimmt die Flasche aus dem Versteck und schüttet den Gin in eine Wasserflasche. Dann drückt er aufs Gaspedal, rast über die Interstate und jubelt: «Ich bin der beste betrunkene Autofahrer der Welt». Bis er sich plötzlich daran erinnert, dass hinten auf dem Rücksitz seine beiden kleinen Kinder sitzen. Oder: Er glaubt, der Teufel sei hinter ihm her, also sucht er eine Bibel und will sie verbrennen. Was er in die Hand bekommt, ist die Hochzeitsbibel seiner Frau Sarah. Oder: Sarah hält ihm die lange Liste der Pornoadressen vor, die er im Internet besucht hat. Also nimmt er den Vorschlaghammer und haut den Computer klein. Erst danach merkt er, was seine Frau ihm die ganze Zeit zugerufen hatte: die Bilder, die Babyfotos ihrer Kinder. Da ist die Geschichte der beiden schon ziemlich vorbei. Doch als Sarah ihm schliesslich sagt, sie wolle die Scheidung, fragt er zurück: «Willst Du Sex haben?»
Elend und Grössenwahn
«Sarah.» ist die wohl abgefahrenste Liebesgeschichte der Welt. Scott McClanahan erzählt darin von Scott McClanahan. Wie er Sarah Johnson kennenlernte und wie er sie wieder verlor. Die Liebes- und die Trennungsgeschichte sind gegengeschnitten. So führt der Autor auf eine bipolare Achterbahn. Auf eine solche Achterbahn führt auch die Erzählstimme. Mit zuweilen kindlich anmutendem Trotz scheut dieser Scott vor keiner Selbstentblössung zurück. Er erzählt von grösstem Elend und Grössenwahn, von existenzieller Leere und Zärtlichkeit, von den Widersprüchen und Absurditäten des Lebens. Nicht von ungefähr sagt Scott, er tue nichts auf der Welt so gerne, wie Sarah zum Lachen zu bringen.
Als ihm Sarah die Scheidung ankündigt, versucht er das noch immer. Er zieht aus, richtet sich im Auto auf einem Walmart-Parkplatz ein und beobachtet dort das ganze Panorama der menschlichen Existenz: Drogendealer, Prostitution und die Menschen, die drei, vier, fünf Einkaufswagen voll im Supermarkt einkaufen, um die Leere in ihrem Leben zu möblieren. «Walmart war ein Geisteszustand», lässt Scott McClanahan Scott McClanahan sagen.
In guten Zeiten lachte er zusammen mit Sarah das Elend weg. Sarah ist Krankenschwester auf einer Intensivstation. Von ihrer Arbeit bringt sie ein ganzes Inventar abartiger Krankengeschichten nach Hause. Darunter die von einem jungen Mann, den sie nach einer Schiesserei künstlich am Leben hielten, bis sich seine Mutter von ihm verabschiedet hätte. Sarah gelingt es nicht, ein Tattoo auf der Höhe seiner Schamhaare zu verdecken. Also sieht die Mutter den Schriftzug «Bedroom Bandit», daneben zwei Revolver und zwei «Mösen» aus denen Rauch aufsteigt. Das Tatoo zaubert ein Lächeln auf ihr Gesicht. Aber Sarah sagt wissend, kein Mensch trage wahre Tatoos auf der Haut.
Menschliche Narbe
Das Buch handelt von den wahren Tatoos, von den Verletzungen des Lebens: «Ich bin eine menschliche Narbe», sagt Scott. «McClanahan sieht in den würdelosesten Momenten noch echte Poesie, sogar so etwas wie echte menschliche Tiefe», schreibt der österreichische Kultautor Clemens Setz per Mail aus Wien. Er kenne kaum Autoren, die das könnten und schliesst sich selbst mit ein. Setz hat das Buch in die deutsche Sprache übertragen. Entdeckt hat er es in einer Twitter-Empfehlung. McClanahan gehört zu einem losen Kreis von US-Autorinnen und Autoren, die früher «Alt-Lit» genannt wurden und eine radikale Authenzität verfolgen.
Doch wie authentisch ist «Sarah.» wirklich? Die Eckdaten stimmen, Scott McClanahan montiert Bilder von sich und von seinen Kindern in den Text und mit der Ich-Form schafft er eine grosse menschliche Nähe. Mit Fiktion könne er wenig anfangen, antwortet er auf Nachfrage. Früher habe man das gebraucht: «Flaubert konnte sich wegen der sozialen Zwänge, der Angst vor Verfolgung oder Exil im echten Leben nicht exponieren. Es war leichter, innere Komplexität durch das, was man ‹Fiktion› nannte zu verschleiern oder zu verstecken.» Sein eigenes Schreiben vergleicht McClanahan gerne mit Malerei: «Lucian Freud und Francis Bacon nutzten Menschen, die ihnen Modell sassen ähnlich wie ich die Menschen in meinem Leben.»
Rauschartig wie ein Song
«Sarah.» ist neben Sammelbänden von Storys der dritte Roman des 42-jährigen Autors und Allroundkünstlers, der in seinen Büchern mit grosser Wärme die Hillbillies seiner Herkunft in West Virginia porträtiert. Ganz unbekannt ist der Autor nicht. Sein Debüt «Crapalachia. A Biography of Place» nennt Shooting Star Ocean Vuong als eines der Bücher, die ihn am meisten beeinflusst haben, und «Sarah.» wurde unter anderem im Magazin Rolling Stone besprochen. Rauschartig wie in einem Song variiert McClanahan darin immer wieder das existenzielle Aufbäumen gegen das Häufchen Elend, das wir sind.
Nicht von ungefähr sind es die verlorenen Kinderbilder, die schliesslich das Fass zum Überlaufen bringen. Denn das Buch ist auch ein Buch über das Glück der Geschichten. Als Sarah zu Scott sagt, wir alle seien nur die Kombination all der Vorstellungen anderer Menschen über uns, findet er noch, das klinge ziemlich bekifft. Doch am Ende erkennt er: Wir leben in den Geschichten der anderen. Und so ist er beides: Bösewicht und Held der Borderline-Geschichte, die er erzählt.
Scott McClanahan: «Sarah.», übersetzt von Clemens Setz, Ars vivendi, 206 Seiten.
publiziert in woz am 6. August 2020; Bild © privat