Natur ist kein Konsumgut, das man bei Bedarf abholen kann, sagt Noëmi Lerch. Ein Besuch bei der Schriftstellerin und Kuhhirtin in der Greina.
Das Gelb ihrer Öljacke vermischt sich mit den gelben Tupfern der Kleeblumen im Gras. Mit festem Schritt läuft sie über die Bergwiese, dicht bei Fuss der Border Collie. Wie Silberfäden zieht sich das Wasser über die Schwemmebene, an deren unteren Ende die Milchkühe weiden. Noëmi Lerch stellt sich zwischen das Braunvieh, zählt die Kühe. Dann ruft sie: «Corói, su» und zeigt auf die Seite. Der Hirtenhund ist nach einem der umliegenden Berge benannt. Schon schiesst er die Bergflanke hoch, nähert sich zwei vereinzelt stehenden Kühen und treibt sie hinab. Langsam formiert sich die Herde und läuft los, zurück zur Alphütte, zum Melken.
Arbeit und Lebensraum
Es ist ein idyllisches Bild. Noëmi Lerch lacht hell auf und sagt: «Ihr hättet gestern kommen sollen.» Am Vortag hatte es in Strömen geregnet, frischer Schnee legte sich auf die Gipfel, in bodenlangen Regencapes habe sie die Kühe von der Weide geholt, erzählt sie. Sie wehrt sich gegen das romantisierende Bild, das die Berge als Gegenpol zur Arbeitswelt stilisiert. «Es gibt keine unberührte Natur, nirgends», sagt sie. Die ganze Landschaft sei von Menschen gestaltet, in der Stadt ebenso wie auf der Alp. «Was ich hier mache, ist Arbeit. Die Greina ist mein Lebensraum.»
Ein Lebensraum, der, ohne genannt zu werden, prägend für ihre Bücher ist. In ihrem Debüt «Die Pürin» erzählt die heute 32-jährige Autorin von einer jungen Frau, die bei einer Bäuerin anheuert und im Zyklus der Jahreszeiten zwischen der handfesten Arbeit auf dem Hof und unsteten imaginären Welten ihren Lebensweg findet. In reduzierter, stark verdichteter und poetischer Sprache zeichnet sie einen Kosmos, in dem Dinge fast menschlichen Charakter haben. Da liest man von Sträuchern, die ihre Erzählerin wie «eine Karawane wankender Gestalten» begleiten, von Tannen, als einem «Heer seltsam steifer Soldaten» und vom Morgennebel als «wilde, sich aufbäumende und sich wieder zerreissende Pferde», die im Tal ihre Kreise drehen, derweil der Wind ihre Mähnen zerzaust.
Ist es die Natur, die solche beseelten Bilder in ihr hervorruft? «Die Bilder haben mit dem Zulassen von Fantasie zu tun», entgegnet die Autorin. Wenn man wenig Umgang mit Menschen habe, würden sich die Dinge beleben. Man rede mit Tieren wie mit Menschen und verstehe sie auch besser.
Geben und Nehmen
Ein solches Miteinander entspricht ihrem Selbstverständnis. «Ich bin nicht mehr wert als eine Kuh», betont sie. Natürlich, wenn man ein Kalb zum Metzger bringt, widerspreche das dieser Haltung. Aber sie will ihr Umfeld nicht ausbeuten, will in einem Kreislauf von Geben und Nehmen leben. «Verweilt man an einem Ort, übernimmt der Ort auch Verantwortung für dich.» In der Greina spüre man das stark: «Im September wirft dich die Landschaft hier raus. Du hast das Gefühl, der Nebel frisst dich auf.» Ihre Hände schiessen in die Luft und unterstreichen die Worte, der Hund wendet den Kopf und blickt zu ihr hoch.
Man könne auch in einer städtischen Landschaft in einem Haus einen Berg sehen oder im Schatten einen Menschen, sagt sie. Ihr geht es nicht um einen Gegensatz zwischen Stadt und Land. Vielmehr um das Wirtschaftssystem, in dem Geld der Gott ist und vermeintlich unberührte Natur zum Konsumgut wird, das man bei Bedarf abholen kann, bevor man wieder ins Arbeitsleben abtaucht – beim Greinalauf zum Beispiel, der einmal im Jahr stattfindet.
«Wir Menschen sollten wieder lernen, etwas zu erschaffen.» Auch in der Stadt gebe es Initiativen, die darauf ausgerichtet sind, zum Beispiel Genossenschaften oder Vertragslandwirtschaft, die Leute in die Produktion einbindet. Aber auf der Alp ist es einfacher, so zu leben. «Für mich stimmt es hier. Es ist ein grosses Glück, ein paar Monate im Jahr nichts kaufen zu müssen.»
Trost und Bedrohung
Doch das Leben auf der Alp ist nicht nur schön. Davon handelt ihr drittes Buch «Willkommen im Tal der Tränen». Es erzählt von drei Männern, die einen Alpsommer miteinander verbringen. Mehr als Erzählung ist es eine Zusammenstellung von Momentaufnahmen, Gedankenblitzen, Notizen – und elementaren Bildern eines Künstlerinnenduos.
Es gibt darin den Moment, in dem einer der Älpler in der Ebene steht. «Das weite Grasland beginnt in ihm aufzusteigen, in ihn hineinzuwachsen. Und die Sonne steigt in ihn hinunter, beginnt in ihm aufzugehen. (…) Die Augen drehen sich um. Schauen nach innen anstatt nach aussen. Da drinnen sieht er nichts als das weite Grasland und die Sonne.» Die Einsamkeit bringt ihn an den Rand des Wahns. Die Landschaft bietet Trost, aber seine Menschlichkeit ist auch bedroht.
«Man spürt hier, wie klein man ist und wie wichtig es ist, dass der Ort dich leben lässt», sagt Noëmi Lerch. Wieder löst sich das offene Gesicht in helles, fast kindliches Lachen. Seit drei Jahren lebt die Autorin in Aquila unten im Tal, sie hat in dem Bauern, der die Alp bestösst, ihren Mann gefunden. Vor uns staut sich die Kuhherde, der Weg führt einen Schutthang hinauf. «Die Steine tun den Kühen weh», erklärt sie. Dann ruft sie: «Parla Corói, parla, bravo». Und der Hirtenhund bellt.
Noëmi Lerch: «Die Pürin», 96 Seiten, 2015; «Grit», 104 Seiten, 2017; «Willkommen im Tal der Tränen», 288 Seiten, 2019, Verlag die brotsuppe
Dieser Text wurde von der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung für Medienförderung ermöglicht und via keystone-sda publiziert, Bilder © Roland Schmid via keystone-sda