Literatur wird von Männern besprochen — und Männer besprechen vor allem Bücher von Männern. Das belegt ein Forschungsprojekt mit Zahlen. Grundlage sind elf überregionale Tages- und Wochenzeitungen, darunter «NZZ» und «Tages-Anzeiger» – gerade die Erkenntnisse zu diesen beiden Zeitungen sind aufschlussreich.
Sie wolle mit ihr über die Anerkennung von Schriftstellerinnen und bildenden Künstlerinnen sprechen, sagt eine Fernsehmoderatorin zur Schriftstellerin Faye in Rachel Cusks neuem Roman «Kudos». Doch dann schaffen die Männer der Sendetechnik es nicht, einen Fehler zu beheben, und die Übung wird abgeblasen. «Angesichts des Themas mehr als ironisch», kommentiert die Moderatorin im Roman.
Seit die feministische Literaturkritik in den 1970er-Jahren das Thema aufs Tapet gebracht hat, ist bekannt: Der literarische Kanon besteht fast nur aus Werken von Männern. Hat sich dieses Missverhältnis bei neueren Büchern geändert? Kaum, urteilt US-Autorin Meg Wolitzer. «Die oberste Riege der Literatur – wo die Luft gut ist und die Aussicht grossartig und wo ein Buch in die öffentliche Debatte eindringt – neigt dazu, sich auf merkwürdige Weise unverhältnismässig männlich zu fühlen», schreibt sie in einem Essay 2012.
Die österreichische Literaturwissenschafterin Veronika Schuchter forscht derzeit an der Universität Innsbruck über das Thema. Dabei richtet sie den Blick dorthin, wo Autoren in den Olymp der Literatur befördert werden: auf die Kritik. Sie fragt: Wie weit können Frauen heute mitsprechen? Und: Definieren Frauen die Kriterien neu? «Männer werten anders. Frauen auch», lautete der Titel eines Artikels von ihr aus dem Jahr 2012.
Patriarchale Dividende
Frauen seien es von klein auf gewöhnt, männliche Perspektiven zu übernehmen, weil der ganze Kanon aus Männern bestehe, sagt Veronika Schuchter. «Sie sind es gewohnt, Texte von Männern zu lesen. Texte, in denen Themen relevant sind für Jungen und Männer. Texte, in denen zwar Frauen die Hauptrolle spielen, aber aus einer männlichen Perspektive heraus.» Männer hingegen würden das umgekehrt in ihrer Lesesozialisation nicht in gleichem Ausmass lernen. Dass sich das in ihrem Wertungsverhalten niederschlägt, ist nichts als logisch. Ihr Blick, ihr Potenzial, ihre Meinung zu formulieren und ihrer Stimme Gewicht zu verleihen, sei geprägt von ihrer Sozialisation. Männer profitieren von der «patriarchalen Dividende», schreibt sie in dem Artikel.
Frauen seien generell offener, sie machen den Unterschied zwischen Männer- und Frauenbüchern nicht, achten weniger auf das eigene Renommee, sie besprechen eher Debüts oder auch Kinder- und Jugendliteratur. Nur: Das sind genau die Texte, die Männer ohnehin nicht besprechen wollen, weil sie eben weniger Prestige bringen. Was bei Rezensentinnen eine Tugend sein könnte, ist es in der öffentlichen Wahrnehmung gerade nicht. Wichtige Texte und wichtige Themen werden von Männern besprochen und machen diese ihrerseits wichtiger. Für Frauen gilt das Gegenteil.
Es ist das Problem, das sich durch die ganze Geschlechterdebatte zieht: Die geringe Wertschätzung von Frauen korreliert mit der geringen Wertschätzung von Arbeitsfeldern, die als weiblich empfunden werden. Das zeigt sich auch in der Wahl der Wörter, die Texte feiern oder rügen. Werde ein Text als «gefühlsbetont» oder «melancholisch» beschrieben, also mit klassisch weiblichen Eigenschaften, entwerte ihn das, so Schuchter. Eigenschaften wie «analytisch», «distanziert» oder «messerscharf», die als männlich wahrgenommen werden, loben einen Text.
Lob bekommt das Buch einer Frau auch, wenn es inhaltlich oder thematisch in männliches Terrain vordringt. Die deutsche Autorin Juli Zeh ist ein Beispiel. Sie greift gesellschaftspolitische Themen auf, ihr vorletzter Roman «Unterleuten» adaptiert das Konzept der «Great American Novel» auf das Deutschland nach der Wende. Und auch ihre nüchterne Sprache bewegt sich im Bereich des männlichen Schreibens. Aufschlussreich ist der Fall von Elena Ferrante. «In Italien hiess es zunächst, die Bücher sind so gut und klar geschrieben, sie müssen von einem Mann sein. Seit man weiss, dass eine Frau hinter dem Pseudonym schreibt, werden ihre Bücher als gefühlvoller gewertet», sagt Schuchter. In der Literatur stehen Frauen vor dem alten Dilemma: Entweder sie bewegen sich in einem wenig prestigeträchtigen Bereich oder sie sind wenig weiblich.
Kaum Frauen in der Kritik
Grundlage für Schuchters Forschung sind elf überregionale Tages- und Wochenzeitungen, darunter «NZZ» und «Tages-Anzeiger» aus der Schweiz, die sie über den Zeitraum der letzten 15 Jahre auswertet. Dabei hat sie festgestellt: Die Texte von Kritikerinnen sind generell kürzer und ihr Anteil liegt konstant zwischen 25 und 30 Prozent. Dieser Zahl entspricht der Anteil der Bücher von Autorinnen. Es gebe aber einen deutlichen Unterschied, ob die Rezensenten Männer oder Frauen sind, sagt sie: «Männer besprechen kaum Bücher von Frauen (26%), Frauen hingegen besprechen zu 45% Bücher von Frauen». Die «NZZ» sei durchschnittlich unterwegs, so Schuchter, der «Tages-Anzeiger» hingegen sei, sowohl was Kritikerinnen als auch Texte von Frauen angeht, «deutlich unterdurchschnittlich».
Die Daten sind die Grundlage für spätere spezifische Fragestellungen. Denn natürlich gibt es auch qualitative Unterschiede. Junge Autorinnen wie Vea Kaiser («Blasmusikpop») oder Charlotte Roche («Feuchtgebiete») erhalten zwar Raum in den Medien. Sie würden aber gerne in Fotostrecken als jung und sexy inszeniert und bei Männern werde deutlich mehr zwischen Werk und Person unterschieden. «Im Grunde kennt man die Missverhältnisse. Kann man diese aber mit Zahlen belegen, schafft das mehr Bewusstsein», ist Schuchter überzeugt. Allerdings zeichnet sich auch ein Umbruch ab. Bei SRF etwa ist das Verhältnis ausgeglichener, Frauen stellen mit 60 Prozent gar die Mehrheit der Literaturredaktion. Seit 2011 leitet eine Frau diesen Bereich.
In ihrem jüngst erschienenen Roman «Das weibliche Prinzip» fordert US-Autorin Meg Wolitzer dazu auf, sich weibliche Vorbilder zu suchen. Das ist der springende Punkt: In der deutschsprachigen Literatur gibt es kaum solche. Mit Jane Austen, den Schwestern Charlotte, Emily und Anne Brontë und Virginia Woolf ist es da um die angelsächsische Literatur besser bestellt.
Die US-amerikanische Kulturhistorikerin Rebecca Solnit beruft sich auf Virginia Woolf und erweitert die gängige Auslegung von deren berühmter Forderung in «A Room of One’s Own». Es gehe nicht nur um das Zimmer zum Schreiben und um finanzielle Unabhängigkeit. Vielmehr um physischen und psychischen Raum in der Gesellschaft. Rebecca Solnit plädiert für eine andere Art der Kunstkritik. Eine, die sich keine Autorität anmasst wie etwa der deutsche Kritiker Denis Scheck, wenn er in seiner Fernsehsendung «Druckfrisch» Bücher in den Schredder wirft. Sondern eine Kritik, die «das Kunstwerk zu erweitern sucht, indem sie Verknüpfungen herstellt, sein Bedeutungsspektrum vergrössert, neue Möglichkeiten eröffnet». Veronika Schuchter hat in der Formulierung der Kritik selbst allerdings keinen Unterschied zwischen Kritikern und Kritikerinnen gefunden.
publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 28. Juli 2018