Sie überstrahlt die aktuelle autobiografische Literatur: Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux
Frankreich steht in Flammen. Die Proteste der Gelbwesten halten an. Präsident Emmanuel Macron konnte mit den angekündigten Reformen kaum beschwichtigen. Die Wut über die soziale Ungerechtigkeit ergiesst sich weiter auf die Pariser Boulevards. Als wichtigste Stimmen zu der Bewegung gelten die befreundeten Linksintellektuellen Didier Eribon, Geoffreoy de Lagasnerie und der literarische Shootingstar Édouard Louis. Louis und Eribon entstammen beide dem Arbeitermilieu. In ihren Texten versuchen sie, anhand der eigenen Biografie die Mechanik sozialer Ausgrenzung aufzuschlüsseln, Eribon als Soziologe, Louis, der sein Schüler war, über die Literatur. Aber lange vor ihnen schrieb eine Autorin Literatur, in der sie sich der eigenen Biografie entlang zu den Bruchstellen der Gesellschaft vorbohrt: Annie Ernaux. In Frankreich ist die heute 79-jährige Schriftstellerin ein Star, bisherige deutsche Übersetzungen ihrer Bücher wurden als Frauenliteratur vermarktet und entsprechend verkannt. Den Auftakt der Neuauflage im renommierten Suhrkamp Verlag machte 2017 der Band «Les années» – «Die Jahre». Das Buch ist eine Offenbarung.
«Les années» ist eine objektive und zugleich äusserst intime Chronik. Annie Ernaux zeichnet darin die Jahre von ihrer Geburt 1940 bis zur Publikation des französischen Originals im Jahr 2008 nach. Sie spricht zumeist kollektiv von «man», «die Leute», manchmal auch «wir» und lässt die Zeit vorbeifliessen, so wie sich diese in ihrer alltäglichen Lebenswirklichkeit niederschlug – im Milieu der Tochter von kleinen Ladenbesitzern, der dank Bildung der soziale Aufstieg gelang. Da liest man von Armut und Lebensmittelmarken, rigider Geschlechtertrennung und begrenzter Mobilität der Nachkriegszeit. Später von immer mehr Gütern, Kleinkrediten und wachsenden Konsumtempeln, von sprachlichen Wendungen, die sich durchsetzen, und vermeintlich allgemeingültigen Glaubenssätzen. Die grossen Eckdaten der Geschichte scheinen auf – die Algerienkrise, der Vietnamkrieg, die Studentenunruhen vom Mai 68, der Übervater de Gaulle, später Mitterrand, schliesslich auch Le Pen und Chirac – immer jedoch aus dem Blickwinkel der Hoffnungen und Ängste oder auch der eigentlichen Unkenntnis, die man, vom Alltag absorbiert, mit diesen verband. Zwischen den Reigen der Jahre gestreut sind Fotos – ein Mädchen am Meer, eine Gymnasiastin, eine Mutter, eine Grossmutter. Momentaufnahmen, in denen die Autorin sich selbst mit akribischem Blick beschreibt und versucht, die Gefühle und Vorstellungen der Frau zu rekonstruieren, die sie zu dem Zeitpunkt gewesen ist. Sie erklärt nicht, interpretiert nicht. Sie wählt sparsam und präzis Details, die umso plastischer und lebensechter wirken. Von ihrem früheren Ich spricht Ernaux immer als «sie».
Fresko des Alltäglichen
Es ist ein grosses Fresko des Alltäglichen, das in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz hat. Es ist aber auch ein Buch, das protokolliert, wie der sich wandelnde Zeitgeist einen Abdruck in Vorstellungen und Dingen hinterlässt und das einzelne Ich durchdringt. Weil Annie Ernaux Frau ist, erhält die weibliche Lebensrealität besondere Aufmerksamkeit. «Sex war die grosse Angst der Gesellschaft», schreibt sie über die Fünfzigerjahre. «Für Mädchen war die Scham eine ständige Bedrohung. Wie man sich kleidete und schminkte, war immer ‹zu› irgendwas: zu kurz, zu lang, zu tief ausgeschnitten, zu eng, zu durchsichtig. Wie hoch die Absätze waren, mit wem man seine Zeit verbrachte, ob man rote Flecken im Schlüpfer hatte, stand unentwegt unter Überwachung der Gesellschaft.»
Mit 18 arbeitet sie in einem Ferienlager und hofft nichts sehnlicher, als auszubrechen — «überwältigt vom Gefühl einer absoluten, flüchtigen Jugend, ganz so, als würde man am Ende der Ferien sterben, wie die Heldin in ‹Sie tanzte nur einen Sommer›.» Die Kombination von Verbot und Begehren lässt sie in eine Katastrophe schlittern: Sie erlebt de facto eine Vergewaltigung, verliebt sich aber in den Jungen und macht sich zum Gespött, weil sie die Reaktion der anderen nicht einordnen kann. Ihr Buch «Erinnerungen eines Mädchens», das in Frankreich 2016 erschien, handelt von dem Trauma. Sie schreibt darin: «Man muss das Terrain abstecken – das soziale, familiäre, sexuelle –, muss nach den Ursachen ihres Stolzes und den Hintergründen ihrer Träume fragen.» Wiederum betrachtet sie ihr früheres Ich mit objektivem Blick und versucht Schicht um Schicht herauszuschälen, was damals genau geschehen ist. Die Katastrophe ist die Keimzelle ihres Schreibens, sie nennt es die «unbeschreibliche Leerstelle». In «Die Jahre» hatte sie darüber als kollektive Erfahrung geschrieben: «Man hatte die Worte noch im Ohr, die man am liebsten gleich wieder vergessen hätte, los, blas mir einen, lutsch meinen Schwanz, Worte, über die man ein Liebeslied legen musste, um die romantische Fiktion eines «ersten Mals» zu erschaffen. Wenn einem das nicht gelang, betäubte man den Schmerz mit Zucker und Sahne – oder man wurde magersüchtig, um ihn auszuhungern.»
Erst durch die Begegnung mit Philosophie, insbesondere mit Simone de Beauvoir, kann sie das Erlebte einordnen, erkennt, dass ihr Verhalten von den anderen als unmoralisch verurteilt worden war – und erst dann schämt sie sich. «Diese Scham ist anders als die Scham, die Tochter von kleinen Ladenbesitzern zu sein», schreibt sie. «Es ist eine weibliche Scham, aus einer Zeit vor dem Slogan ‹Mein Körper gehört mir›, zehn Jahre später.»
Der Scham nachzuspüren und damit den Bruchstellen der Gesellschaft und der sozialen Gewalt: Das ist das Lebensthema von Annie Ernaux. Soeben ist ihr Buch «Der Platz» erschienen. Darin rollt sie nach dem Tod ihres Vaters dessen Leben auf. Vom Knecht arbeitete er sich hoch zur prekären Existenz eines Ladenbesitzers. Ein Leben, geprägt vom Verrat der bäuerlichen Herkunft und der ständigen Angst vor dem sozialen Abstieg. Sein grösster Stolz sei gewesen, «dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte», schreibt Ernaux. Der Preis dafür war die Klassendistanz, die sich zwischen Vater und Tochter schob.
Die Wahrheit ans Licht holen
Über Klassendistanz schreiben auch Didier Eribon in «Rückkehr nach Reims» und Édouard Louis in «Das Ende von Eddy» und «Wer hat meinen Vater umgebracht». Auch sie setzen sich mit dem Vater auseinander, allerdings haben Eribon und Louis den sozialen Aufstieg gewählt, gerade um Distanz zwischen sich und ihre Herkunft zu legen. Und weil beide homosexuell sind, schreiben beide auch über homophobe Ausgrenzung und über Rassismus. Louis’ eindrücklichstes Buch «Im Herzen der Gewalt» handelt von einer Vergewaltigung, die er erlebt hat. Er protokolliert darin, wie verschiedene Leute seine Erfahrung in eigene Worte fassen und ihr dabei je eigene, rassistische, Bedeutung zuschreiben.
Bei all den Autoren zeigt sich der Einfluss der grossen französischen Soziologen, allen voran Pierre Bourdieu. Eribon und Louis haben beide über Bourdieu publiziert, Annie Ernaux würdigt ihn und sein Werk als grosse Befreiung. Bourdieu erweiterte die Klassentheorie über die rein ökonomische Dimension hinaus. Er spricht von den sozialen und kulturellen Unterschieden, die gesellschaftliche Macht strukturieren. Sie zeigen sich etwa, wenn Ernaux’ Eltern einen enormen Aufwand betreiben, wenn die Tochter Klassenkameradinnen aus «besserem Haus» einlädt.
Es sei «ein schmaler Grat zwischen der Rehabilitierung einer als unterlegen geltenden Lebensweise und dem Anprangern der Fremdbestimmung, die mit ihr einhergeht», schreibt Ernaux in «Der Platz», das in Frankreich 1984 erschienen ist. Und über ihr traumatisches «Erstes Mal», das an dem Jungen abgeperlt war, ohne Spuren zu hinterlassen, sagt sie: «Ich beneide ihn nicht, ich bin es, die schreibt.» Schreiben als Revolte und gegen das Vergessen einer alltäglichen und eben auch abgewerteten Lebensrealität, die sie im Bestreben um grösstmögliche Wahrheit ans Licht holt: Wie Annie Ernaux mit berührender wie schockierender Präzision die Verschränkungen von Ich und Gesellschaft auseinanderfaltet, liest man mit stockendem Atem. Im Herbst erscheint «Eine Frau», das Original von 1988, über ihre Mutter.
Soziologische Einflüsse:
Simone de Beauvoir (1908–1986). Die Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir stammte aus bürgerlicher Familie. Ihr Buch «Das andere Geschlecht» (1949) ist ein Meilenstein des Feminismus. Darin wies sie auf die Unterdrückung der Frau im Patriarchat hin: Der Mann sei die Norm, die Frau werde in Abhängigkeit von ihm definiert, eine Rolle als aktiv handelndes Subjekt sei ihr verwehrt. «Man ist nicht als Frau geboren, man wird es», sagte sie. Ihre umfassende Analyse der Lage der Frau wurde zur Grundlage für die zweite Welle der Frauenbewegung.
Michel Foucault (1926–1984). Michel Foucaults Arbeiten über Machtverhältnisse sind wegweisend. Er richtete den Blick darauf, wie Macht in der sozialen Interaktion ausgeübt wird – berühmt sind seine Schriften über das Bestrafen. Besonderes Augenmerk widmete er dem Diskurs – willkürliche Aussagen, die sich zu vermeintlich objektiven Glaubenssystemen verfestigt haben. Durch solche Diskurse werden bestimmte gesellschaftliche Gruppen als «anders» definiert und ausgeschlossen oder diszipliniert – Wahnsinnige zum Beispiel, oder Frauen.
Pierre Bourdieu (1930–2002). Pierre Bourdieu stammt aus dem Arbeitermilieu und ist einer der einflussreichsten Soziologen. Sein Hauptwerk «Die feinen Unterschiede» (1979) ist eine empirische Untersuchung. Darin zeigt er, wie Geschmack und bestimmte Vorstellungen vom jeweiligen sozialen Umfeld geprägt sind. Soziale Unterschiede manifestieren – und reproduzieren – sich nicht nur in der ökonomischen Position eines Menschen, sondern auch im kulturellen oder sozialen Kapital – der Bildung, der sozialen Kontakte oder des Geschmacks.
Annie Ernaux: «Die Jahre», 2017, 255 S.; «Erinnerung eines Mädchens», 2018, 163 S., «Der Platz», 2019, 94 S.; «Eine Frau», angekündigt für Oktober 2019, ca. 100 S., alle Suhrkamp Verlag.
publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 18.5.2019. Bild © ZVG