Im eben erschienenen Debüt «Hier ist noch alles möglich» weitet Autorin Gianna Molinari das Flüchtlingsthema und schreibt viel breiter über Räume, willkürliche Grenzen und Wahrnehmung.
Für Gianna Molinari hat es sich gelohnt. «Klagenfurt war eine intensive Erfahrung», schreibt die Schweizerin rückblickend aus der Distanz eines Jahres. Sie hatte 2017 am Wettlesen um den Bachmannpreis teilgenommen. Natürlich sei man als Autorin ausgestellt und durch die Kritik verletzlich, sagt sie. «Die Teilnahme war aber wichtig für den Roman, da sie für Sichtbarkeit sorgte.»
Nach Klagenfurt hat Molinari eine Agentur und einen Verlag gefunden. Nicht irgendeinen: Der Aufbau-Verlag ist einer der grossen deutschen Publikumsverlage. Er kündigt Molinaris Debüt auf dem Cover seines Herbstkataloges als Schwerpunkt an. Von so etwas können selbst gestandene Schweizer Autoren in der Regel nur träumen.
«Loses Mappe» hiess der Text, mit dem Gianna Molinari vor Jahresfrist den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis gewann. Darin ging es um einen Mann, der vom Himmel gefallen war. Vorlage war ein realer Fall, über den 2010 mehrere Zeitungen und das Radio berichtet hatten.
Der Mann muss aus dem Fahrwerk eines Flugzeugs gefallen und wegen Sauerstoffmangels und Kälte tot gewesen sein, lange bevor er auf den Boden aufschlug. Vermutlich ein Flüchtling. Die Autorin erntete viel Lob für den Text. Einige Jurymitglieder warfen ihr allerdings vor, ihr Text weise zu deutlich auf das Flüchtlingsthema hin. Für den Wettbewerb hatte die Autorin einen Auszug erarbeitet, der sich anbot, als in sich geschlossene Geschichte gelesen zu werden.
Räume und Grenzen
Im eben erschienenen Debüt «Hier ist noch alles möglich» weitet Molinari ihr Thema und schreibt viel breiter über Räume, willkürliche Grenzen und Wahrnehmung. Gleich zu Beginn nimmt ihre Erzählerin im Buch eine neue Arbeit als Nachtwärterin in einer Fabrik an. Einer der Mitarbeiter will einen Wolf gesehen haben.
Allerdings steht die Fabrik kurz vor der Schliessung. Sie sei wahrscheinlich so etwas wie ein «Trostmittel des Chefs», lässt die Autorin ihre Figur mutmassen. «So lange Nachtwachen hier ihre Runden drehen, ist seine Fabrik noch als Fabrik zu bezeichnen. Ich bin froh um den Wolf. Vielleicht verleiht der Wolf meiner Tätigkeit eine Wichtigkeit.»
Solche Verkehrungen von geläufigem Sinn sind typisch für den Roman. Nicht von ungefähr ist das Herzstück der Fabrik eine Wellkartonanlage. «Das Papier läuft durch die Riffelwalzen, wird gewellt und mittels der Klebstoffauftragswalze sowohl an den oben liegenden als auch an den unten liegenden Wellenkronen jeweils mit einem weiteren Papier verklebt.»
Das bewegliche Innere, das oben und unten von einer glatten Oberfläche zusammengehalten, verdeckt und schliesslich zu Schachteln gefaltet wird: Man kann darin ein Bild sehen für die physischen und psychischen Räume, in denen wir uns bewegen und für die glatten Oberflächen über oszillierenden Wirklichkeiten.
Molinari lässt ihre Erzählerin sagen: «Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit vielleicht, nach Wirklichkeit. Ich möchte unterscheiden können, was wichtig ist und was nicht.» In der Fabrik, die allmählich von der Natur zurückerobert wird, kann sie ein neues Umfeld erkunden: «Hier ist noch alles möglich», sagt sie.
Die neue Nachtwärterin beobachtet ihr Umfeld genau, macht Skizzen und Fotos. Ihr mitgebrachtes «Universal-General-Lexikon» erweitert sie mit eigenen Aufzeichnungen. Skizzen, Fotografien und Zeitungsartikel lässt die Autorin auch in den Roman einfliessen und erweitert damit den fiktiven Text. «Im Kontext der Literatur erhält das Dokumentarische andere Bedeutungen und Funktionen zugeschrieben», erklärt die Autorin ihr Vorgehen. «So kann ein Dokument mit Beweischarakter infrage gestellt werden.»
Die Artikel über den toten Mann aus dem Flugzeugfahrwerk zum Beispiel. Diese Geschichte hat Gianna Molinari sehr berührt. «Ganz allgemein beschäftigt mich das Thema Grenzen», sagt sie. «Vor allem die Ungleichheit: Für wen sind Grenzen durchlässig und für wen nicht?»
Das sichtbare Unsichtbare
Die 1988 in Basel geborene Autorin lebt in Zürich. Sie hat am Literaturinstitut Biel und an der Universität Lausanne studiert und ist Mitbegründerin des Projekts «Schreiben für das, was passiert». Auf Bestellung schreiben sie und ihre Mitstreitenden spontane Texte, deren Erlös in Flüchtlingsprojekte fliesst. Die Schreibtechnik für ihre Romane ist eine andere, der Anspruch bleibt gleich. «Der Grossteil der Literatur befasst sich mit dem, was passiert», schreibt Molinari aus Berlin, wo sie im Rahmen eines Stipendiums bereits am nächsten Buch arbeitet.
Genau das tut ihr Roman. Die Montagen von Bildern und dokumentarischen Texten machen ihrerseits die Fiktion realer. Der Text bekommt eine räumliche Dimension. Gianna Molinaris Roman hat einen Plot, er erzählt eine Geschichte. Und wirkt dennoch, als begebe man sich in einer künstlerischen Installation auf einen Rundgang durch reale Räume und durch Denkräume, die ihr Inneres nach aussen kehren, sich verschieben, in einer tiefer liegenden Schicht der Wirklichkeit schürfen. Eine abenteuerliche Reise, die manchmal im Rätselhaften bleibt und doch den Blick auf Gewissheiten lenkt und sie in ihren Grundfesten aufweicht.
Gianna Molinari: «Hier ist noch alles möglich», Aufbau, 192 Seiten.
publiziert in Schweiz am Wochenende / AZ Medien am 14. Juli 2018. Bild © Christoph Oeschger