Ein verhaltensauffälliges Kind und ein alter Postbote mit einer seltsamen Geschichte – Tabea Steiner erzählt in ihrem Debüt «Balg» vom wachsenden Vertrauen zwischen zwei Aussenseitern und den argwöhnischen Blicken des Dorfes — schreibt Julia Wang
«Die Fruchtblase platzt»: Antonia und Chris bekommen ein Kind und ziehen in ein ländliches Dorf, Antonias Heimat. Doch das neue Leben gestaltet sich nicht leicht. Seit das Kind da ist, ist Antonia zu müde für alles. Trotz Hilfe der Grossmutter kommen die beiden Eltern mit der Erziehung nicht immer gut zurecht. Chris muss von Postbote Valentin lernen, wie man das Kind hält und Antonia stillt mehrmals trotz Alkohol im Blut. Die Grossmutter hilft den beiden, doch Timon beisst. In ihrem Roman «Balg» erzählt Tabea Steiner von der Kindheit eines ungezogenen Jungen in einem überforderten Umfeld.
Für den Vater des kleinen Timon stellt die neue Umgebung eine zusätzliche Herausforderung dar. Er sucht Anschluss und besucht öfters Valentin in seinem Gemüsegarten. Dabei nimmt er den kleinen Timon mit, der diese Besuche mindestens so sehr geniesst wie sein Vater. Als Chris Antonia von den Besuchen erzählt, ist diese jedoch alles andere als begeistert. «Nie wieder!» sagt sie, nennt aber keinen Grund.
Zwischen den Eltern bricht immer mehr Streit aus, irgendwann ist Schluss. Chris stellt fest, dass er für das Dorfleben nicht geschaffen ist und zieht weg. Antonia bleibt als alleinerziehende Mutter zurück. War sie schon vorher am Anschlag, zeigen sich fortan noch mehr Schwierigkeiten.
Ein Kind mit eigenem Kopf
Timon handelt eigenwillig. Das kleine Energiebündel macht was es will. Die Grossmutter verliert ihn beim Einkaufen und beim Spazieren aus den Augen und als sie mal einnickt, läuft Timon mit einem Kissen durch die Haustür und hinaus Richtung Dorfplatz. Wieso das Kissen? Er spielt Hund. Wohin will er? Zu Papa, «Papa im Garten!». Die Grossmutter reagiert erstaunt, denn sein Vater wohnt nun in der Stadt – meint der Kleine Valentin, den ehemaligen Lehrer?
Das Buch beleuchtet zahlreiche Perspektiven, dabei wirkt Timons kindliche Perspektive besonders eindrücklich. Die 38-jährige Autorin, die sich als Literaturveranstalterin bereits einen Namen gemacht hat, bringt in ihren ersten Roman Erfahrungen von der Arbeit als Primarschullehrerin ein. Kinder brächten einen dazu, die scheinbare Normalität und gesellschaftliche Normen zu überdenken, schreibt Tabea Steiner auf Anfrage per Mail. Sie wollten zum Beispiel wissen, wie man etwas im Internet gesucht hat, als es noch keine Computer gab: «Eine solche Frage sprengt meine Fantasie». Gerade unangepasste Kinder würden einen herausfordern, sagt die Autorin.
Schattenseiten und Konflikte
Die Charaktere in «Balg» präsentieren sich nicht ohne Schattenseiten. Dies gilt in besonderem Masse für Timon, der kein einfaches Kind ist. Lehrpersonen beklagen sich bei der Mutter, weil er andere Kinder beisst und schlägt. Wieso er sich prügelt, das weiss Timon nicht. «Aber wenn ihn etwas ärgert, macht er Fäuste. Und wenn die anderen genau dann lachen, hat er eben die Fäuste schon parat.»
Gewalttätig verhält sich Timon auch Tieren gegenüber. Auf brutale Weise überfährt er absichtlich einen Igel. Dies, obwohl sich das Kind an verschiedenen Stellen als sehr tierlieb herausstellt. Das Schreiben solcher Szenen, in denen Figuren gegen ihre eigentlichen Interessen handeln, ging der Autorin sehr nah. Es war für sie wichtig, «Stellen zu schreiben, die wehtun, und gleichzeitig den inneren Konflikt der Figur sprachlich abbilden.»
Auch bei Antonia, der Mutter, finden sich innere Konflikte. Wie ihr Sohn, wenngleich auf andere Art, handelt auch sie oft widersprüchlich. Beide Figuren wirken dadurch sehr menschlich. Durch das Schreiben aus verschiedenen Blickwinkeln erweckt Tabea Steiner Mitgefühl mit den Figuren, gleichzeitig beschönigt sie deren Handlungen nicht, und ruft so an gewissen Stellen durchaus auch Abneigung und Distanz hervor.
Gerede und Reden
Antonia und die Grossmutter sind mit Timon überfordert, wollen aber nicht, dass darüber geredet wird – geredet wird in dem Dorf aber viel. Man kennt sich, und alte Geschichten werden so schnell nicht vergessen. Über das Verhältnis zwischen Valentin und Timon verbreiten sich allerlei Gerüchte. Ausser der Grossmutter fragt jedoch niemand nach deren Wahrheitsgehalt. Es sei schwieriger, unangenehme Dinge anzusprechen, als diese zu ignorieren, sagt die Autorin: «Die Dinge stehen dann als weisse Elefanten im Raum und wachsen bis sie platzen».
In «Balg» gibt es viel Unausgesprochenes und viele Missverständnisse. Womöglich wäre Vieles anders gekommen, wenn die Figuren besser miteinander kommuniziert hätten. Vielleicht würde Valentin nicht in einem Haus wohnen, welches «wirkt, als wende es sich vom Dorf ab». Er wäre vielleicht «gerne Lehrer geblieben, und vielleicht würde er noch immer unterrichten». Und Timon wäre vielleicht kein Balg geworden.
Sprache und Kommunikation spielen in «Balg» eine zentrale Rolle. Gesellschaften, Familien oder Bewohner einer Stadt würden sich über gemeinsame Erzählungen, Legenden und Geschichten konstituieren, sagt Tabea Steiner, die selbst in einem kleinen Dorf aufgewachsen ist und heute in Zürich lebt. Ihr Interesse gilt aber auch der Wirkung in umgekehrter Richtung. Man könne Menschen ausschliessen, wenn man ihnen diese gemeinsamen Erzählungen vorenthalte, sagt sie. «Das passiert sehr häufig, zuweilen unbewusst, oft aber mit Berechnung. Das ist verantwortungslos.»
Tabea Steiner: «Balg», Edition Bücherlese, 240 S.