In der DDR, bei Pearl Harbour, in Schweizer Internierungslagern oder im Aufruhr der 68er-Bewegung – das 20. Jahrhundert brachte mit diversen Konflikten viel Stoff für Erzählungen. Wir haben vier Geschichten über vier packende Einzelschicksale ausgesucht, die einen auch in der Winterzeit nicht kalt lassen
Wir alle sehen denselben Mond
von Joana Gut
Auf dem Weg zur Bibliothek sieht die Frau die Bekanntmachung. Sie hängt an jedem Telefonmast der University Avenue. Es handelt sich um einen Evakuierungsbefehl. Beim Überraschungsangriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember waren die Amerikaner noch von der Loyalität ihrer japanisch-amerikanischen Bevölkerung überzeugt gewesen. Dann kehrte die Stimmung plötzlich. Julie Otsukas «Als der Kaiser ein Gott war» beginnt im Frühling 1942 in Berkeley, USA. Das Buch erzählt von einer japanisch-amerikanischen Familie. Von einem dunklen Stück Geschichte.
Der Vater wird mitten in der Nacht abgeholt. Der Junge hat seinen Vater noch nie ohne Hut auf dem Kopf das Haus verlassen sehen. In dieser Nacht verbrennt die Mutter Briefe aus Kagoshima, Familienfotos, drei Seidenkimonos und Schallplatten mit japanischen Opern. Von jetzt an zählen wir mit den Fingern, mahnt sie. Sagt, ihr seid Chinesen. Sprecht nie den Namen des Kaisers aus.
Die Leute starren sie trotzdem an. In Schaufenstern tauchen Schilder auf: FÜR JAPSEN VERBOTEN. Für die nationale Sicherheit werden alle Menschen japanischer Abstammung in Internierungslager in die Wüste geschickt. In zensierten Briefen erzählt der Vater vom Wetter. Der Junge fragt sich, ob man überall denselben Mond sieht. Die Uhr des Mädchens ist stehen geblieben.
Otsukas einfache, exakte und eindrückliche Pinselstriche hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Alle Familienmitglieder bleiben namenlos, sie sind einfach die Frau, der Mann, das Mädchen, der Junge. Das macht das Einzelschicksal einer ungerechtfertigten Gefangenschaft zu einer universellen Geschichte.
Augen-Öffnungs-Potenzial: Ein beängstigend zeitgenössisches Porträt von Rassismus und Ausgrenzung sowie deren Folgen.
Bauchgefühl nach dem Lesen: desillusioniert und dumpf
Julie Otsuka: «Als der Kaiser ein Gott war»
aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli. Lenos, 189 Seiten
Eine Welt zwischen Abstrusität und Realität
von Melina Müller
Das Buch «Die langen Arme» von Sebastian Guhr ist nicht nur optisch ein Hingucker. Die fiktive Geschichte bietet Einblicke in das abstruse Leben der Schwestern Antje und Yvette, die durch ihre eigenwilligen Charaktereigenschaften ihren Platz in einer DDR-Kleinstadt nicht wirklich finden. Durch einen Zufall entdeckt eine der Schwestern einen unbekannten Tunnel, der sämtliche Häuser der Stadt miteinander vernetzt. Kurzerhand nutzen die Schwestern die unterirdischen Gänge als Entwicklungslabor für ein Geruchsinstrument, das statt Töne Gerüche erzeugt und aus Katzenkadavern gebaut ist, ihre «Fleischblume». Zudem ermöglichen «die langen Arme des Tunnels» Antje Einblicke in das private Leben der Stadtbewohner. Sie beobachtet Menschen, die ihre Bedürfnisse und Wünsche aufgrund der vorherrschenden DDR-Richtlinien im verborgenen ausleben müssen. Unter tragischen Familiengeschichten und der sich verändernden Welt bemerkt sie, dass ihre Schwester sich immer mehr verändert und sich in ihrer Kunst verliert.
Augen-Öffnungs-Potenzial
Das Buch ist trotz seiner fiktiven Eigenschaften und seiner Absurdität ein wahrer Augenöffner. Es nimmt den Leser mit in die Vergangenheit und lässt ihn das Leben in der DDR durch die Augen von Antje betrachten.
Bauchgefühl nach dem Lesen
Die Geschichte hinterlässt beim Leser aufgrund der ekligen Machenschaften der Schwestern und den tragischen Geschichten der Figuren ein flaues Gefühl im Magen.
Sebastian Guhr: «Die langen Arme»
Kein & Aber, 176 Seiten
Jossele, Bonvivant mit tragischem Ende
von Linda Harzenmoser
Joseph Schmidt, jüdischer Tenor mit rumänischem Pass, «sang oft lieber, als er sprach». Während des Zweiten Weltkrieges wird er von den Nazis verfolgt, und wie so viele wagt er sich auf eine Flucht in die Schweiz. Schmidt, der es durch sein Talent zu Ruhm und Reichtum brachte, muss sich nun mit ungewürzter Kohlsuppe und Strohsäcken als Nachtlager zufrieden geben – unter dem bleiernen Druck der NS-Herrschaft nützt ihm auch sein Prominenten-Status nichts.
«Der Sänger» von Lukas Hartmann ist ein Buch, das einem gleichzeitig eine Gänsehaut über den Rücken jagt und ein wohlig-warmes Gefühl hinterlässt. Lukas Hartmann zeichnet ein farbiges Bild eines Einzelschicksals, ohne dabei die grossen Themen der Zeit ausser Acht zu lassen: Unsicherheit und Überforderung, aber auch Mitgefühl und Warmherzigkeit. Die schwierige Situation zwischen Selbstschutz und humanitärer Hilfe, in der sich die Schweiz zur Zeit der Nationalsozialisten befand, wird den Lesenden dabei von neuem klar.
Trotz der Traurigkeit, die die Geschichte über weite Strecken prägt, liest sich Hartmanns neustes Buch flüssig und schafft es, einem immer wieder ein Lächeln zu entlocken.
Augen-Öffnungs-Potenzial
Einblick in ein Einzelschicksal während des Zweiten Weltkriegs, das zeigt, welchen Schwierigkeiten sich nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die Schweizer Bevölkerung stellen mussten.
Bauchgefühl nach dem Lesen
Erschaudern und Bitterkeit wegen der Kriegszeit, aber viel Wärme und Zuversicht angesichts des omnipräsenten Mitgefühls und der Hilfsbereitschaft.
Lukas Hartmann: «Der Sänger»
Diogenes, 288 Seiten
Schreiben, Sucht und Scheitern
von Louis Rüegger
1980er Jahre. Harry Gelb, Mitte Zwanzig, wandelt von den Dächern Istanbuls über Berlin via Göttinger Provinz nach Frankfurt am Main. Er mäandert zwischen heruntergekommenen Hotels, Wohngemeinschaften und besetzten Häusern. Stete Begleiter sind die Sucht und das Schreiben. Harry möchte Schriftsteller sein, aber er ist abhängig, erst von Rohopium, später von Alkohol. Ein Abhängiger, der sich im 68er-Millieu bewegt, sich aber stets davon distanziert und nicht selten nur Verachtung für die Hippies übrig hat. Und immer wieder versucht er Schriftsteller zu sein, in der Literaturszene Fuss zu fassen, zu publizieren. Den Rohstoff fürs Schreiben bietet das eigene Leben – harter Realismus. Doch Gelbs Schreiben scheitert. Immer wieder. An seiner Sucht oder am Literaturbetrieb.
Und so liest sich dieses Buch als Bericht eines Süchtigen. Als Chronik des Scheiterns, als Poetik in Ansätzen, als Satire auf den Literaturbetrieb und auf das links-alternative Milieu im Deutschland der 80er Jahre.
Augen-Öffnungs-Potenzial
Besteht hinsichtlich der Fragen, was Sucht bedeutet und wie es in Deutschland vor vierzig Jahren war.
Bauchgefühl nach dem Lesen
Ein Mix aus Belustigung, Beelendung und romantisch-verklärtem Sinnieren über die gute alte Zeit, selbst wenn man diese gar nie miterlebt hat.
Jörg Fauser: «Rohstoff»
Diogenes, 352 Seiten