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Verliebt in die Vergeblichkeit

In seinem neusten Roman schreibt Alain Claude Sulzer vom Altern und von der Jugend, vom Vietnamkrieg und der Liebe zur Musik – und von einem Schaufensterdekorateur, der versucht, mit dem frischen Wind der 1968er-Jahre zurecht zu kommen — eine Besprechung von Linda Harzenmoser

«Unhaltbare Zustände» ist ein Buch über Veränderung. Über Veränderung, über das Altern, aber auch über Liebe, über Musik und über die Frage, ob es sich schickt, im Unterhemd auf dem Balkon zu sitzen. Alain Claude Sulzer erzählt in seinem neuen Roman eine Geschichte, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie wahr ist, um gleichzeitig zu hoffen, sie sei gänzlich erfunden. 

Die Vietcongfahne auf dem Kirchturm 

Herr Stettler ist Schaufensterdekorateur in einem stolzen Warenhaus in einer mittelgrossen Schweizer Stadt. Schon seit mehreren Jahrzehnten übt er diesen Beruf aus, das Warenhaus Quatre Saisons ist sein Zuhause, die Schaufenster sind sein Spielplatz. Einen Lebensinhalt ausserhalb der Arbeit hat Stettler nicht wirklich: Seit dem Tod der Mutter wohnt er allein in der zuvor gemeinsamen Wohnung, das Fotografieren gab er vor Jahren auf, ebenso die Suche nach einer Partnerin. Mit dieser Situation ist Stettler durchaus zufrieden, besonders mit seiner Stellung im Warenhaus. Als aber eines Tages im Jahr 1968 auf dem Münsterturm eine Vietcongfahne gehisst wird, weiss er, dass sich von nun an alles ändern wird – wohl nicht zum Guten. 

Während die Jugend gegen den Vietnamkrieg rebelliert, Jeanshosen anzieht und ohne Krawatte auf die Strasse geht, erlebt der Protagonist auch im Beruf eine Verunsicherung: Kann er mit den neuen, modernen Ideen des jungen Herr Bleicher mithalten? Als der auf die Pensionierung zugehende Dekorateur den neuen Mitarbeiter zur Seite gestellt bekommt, geht es mit Stettlers Selbstzufriedenheit bergab. «Wäre Stettler nicht mehr zur Arbeit erschienen, hätte ihn niemand vermisst», sagt Alain Claude Sulzer in einem Interview mit Radio SRF. Der Roman zeichnet eine Art doppelten Zusammenbruch nach: «Stettler hatte das Gefühl, bereits jetzt in der Vergangenheit zu leben, während Bleicher sich in der Zukunft bewegte.» 

Die Vergeblichkeit des Unterfangens 

Obwohl Stettler laut Sulzer «letzlich eine relativ blasse Figur» ist, lässt er sich doch zu einigen Gefühlsausbrüchen hinreissen. Meist beziehen sich diese auf die scheue Verliebtheit in die Radiopianistin Lotte Zerbst, die Sulzer in einem zweiten Handlungsstrang einführt. Stettler bekommt sie nie zu Gesicht, trotzdem keimen in ihm Gefühle auf, die ihn dazu bringen, ihr einen Brief zu schreiben. Er erhält eine Antwort, und so entwickelt sich eine Art Beziehung zwischen den beiden. Obwohl sie sich gut zu verstehen scheinen und durch ihre Liebe zur Musik verbunden sind, endet der Austausch nicht in einem Treffen. Wie wichtig ist der Handlungsstrang um Lotte für den Roman? Gut möglich, dass die Nebensächlichkeit dieser Beziehung vom Autor intendiert ist – Stettler würde sich vielmehr in «die Vergeblichkeit des Unterfangens» verlieben als in die Pianistin selbst, sagt Sulzer.

Eingerahmt ist die Handlung in eine Rahmenerzählung, in der Sulzer eine Art Alter Ego berichten lässt, wie er das Ende des Romans selbst erlebte. Der 67-Jährige, der in den 1968er-Jahren Teenager war, wehrt ab, für Stettler gebe es keine reale Vorlage, für die Schaufenster aber schon. Flüssig geschrieben und in schlichter Sprache gehalten, liest sich der Roman gut – das je länger je unangenehmere Verhalten Stettlers hinterlässt aber einen schalen und befremdlichen Nachgeschmack. Alain Claude Sulzer hat mit dem alternden Dekorateur eine präzis gezeichnete und realitätsnahe Figur geschaffen, welche die Verunsicherung der 1968er-Jahre allzu deutlich repräsentiert. Und selbst wenn diese Zeit der Veränderung schon ein halbes Jahrhundert zurück liegt – auch in der Gegenwart finden sich Umbrüche, denen viele Menschen auf den ersten Blick nicht gewachsen zu sein scheinen.

Alain Claude Sulzer: «Unhaltbare Zustände», Galiani, 272 S.