Beklemmend, poetisch dicht und fast körperlich erfahrbar: «Das Eidechsenkind» von Vincenzo Todisco. Eine Begegnung mit dem Autor
Die Dunkelziffer ist hoch: 10-15’000 Kinder waren betroffen, davon geht man heute aus. Es waren die 1960er und 70er Jahre, die Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs. Man brauchte Arbeitskräfte — «doch es kamen Menschen», so Max Frischs berühmte Aussage. Das Saison-nierstatut erlaubte Gastarbeitern, neun Monate in der Schweiz zu arbeiten. Dann mussten sie für drei Monate zurück in die Heimat. Es war praktisch. So kam man etwa auf dem Bau drum herum, ihnen den Winter hindurch Lohn zu zahlen. Der Familiennachzug war ihnen untersagt, sie sollten nicht sesshaft werden. Doch was sollten sie tun, wenn sie Kinder hatten?
Das ist der Ausgangspunkt von Vincenzo Todiscos Roman «Das Eidechsenkind». Wir treffen den Autor am Zürcher Hauptbahnhof und gehen zusammen zum Kulturhaus Helferei, wo er im Rahmen des Lesefestivals «Zürich liest» einen Auftritt hat. Auch tags drauf hat er eine Lesung in Zürich. Am gestrigen Sonntag hatte er eine im Engadin. «Es ist unglaublich viel», sagt der Autor, der die zusätzlichen Termine an seinem Hauptberuf als Dozent und Forscher an der Pädagogischen Hochschule Chur vorbeibringen muss. Aber er freut sich: Seit das Buch für den Schweizer Buchpreis nominiert ist, erlebt es einen zweiten Frühling.
Trilogie über Migranten
«Das Eidechsenkind» ist Todiscos fünfter Roman. «Ich sehe darin auch den Abschluss einer Trilogie», sagt der Autor. Wie seine letzten beiden Bücher handelt das neue wiederum vom Schicksal der italienischen Migranten. Doch während das vorangehende «Rocco und Marittimo» in fast epischer Breite die Geschichte einer Familie erzählt, bündelt Todisco im neuen Buch den Fokus und zoomt ganz nah heran. Die Kinder der Saisonniers blieben entweder bei Verwandten in der Heimat, wurden in ein Heim gesteckt, oder die Eltern schmuggelten sie in die Schweiz und versteckten sie in der Wohnung. Von einem solchen «verbotenen» Kind erzählt «Das Eidechsenkind». Davon, wie es allein zurückbleibt, wenn die Eltern arbeiten gehen. Wie es ins Kissen hustet, wenn es krank ist. Oder wie es den begrenzten Raum mit Schritten vermisst und genau weiss, wo es sich verstecken muss, sollte einmal jemand Fremdes die Wohnung betreten.
Seine Mutter habe Leute gekannt, die Kinder versteckt hatten, erzählt der Autor, der 1964 als Kind von italienischen Migranten in der Schweiz geboren ist. Auch bei seinen Recherchen zum vorangehenden Roman sei er immer wieder auf das Thema gestossen. Nicht zuletzt hat die Psychologin Marina Frigerio im Rotpunktverlag, wo auch Todiscos Romane erschienen sind, ein Sachbuch über die «verbotenen Kinder» veröffentlicht und es gab eine Diskussionsrunde im SRF-«Club», die immer noch aufgerufen werden kann. Doch dann hat ihn das Thema aus literarischen Gründen gepackt: «Wie schreibt man eine Geschichte, die nur in einer Wohnung spielt?»
Das Buch nimmt einen sofort gefangen. Todisco erzählt in einer einfachen, kindlichen Sprache, aber in der dritten Person und als allwissende Instanz. Er arbeitete lange daran, bis er diesen Ton gefunden hatte. In einem ersten Entwurf hatte er das erwachsene Kind aus der Erinnerung erzählen lassen, in einem zweiten Anlauf schrieb er aus einer objektiven Perspektive. «Dann habe ich gemerkt, ich muss ganz nah beim Kind sein, und diese Erzählhaltung durchziehen. Erst dann hat es funktioniert», sagt er. Wie wenn er durch eine Kamera auf dessen Schulter blicken würde.
Die ersten Entwürfe schrieb Todisco auf Italienisch, wie seine bisherigen Romane. Dann jedoch verwarf er diese Texte, sie waren zu barock und zu blumig. «Das Italienisch ist meine Bauchsprache, das Deutsch meine Kopfsprache», erklärt der Autor. «Diese Geschichte verlangt eine Reduktion und eine Dichte, die ich in der deutschen Sprache leichter erzeugen konnte.» Ein bisschen war es auch so, wie wenn er die Kopfsprache Deutsch aus der Enge des Kopfes zu den Gefühlen hin befreit. Denn darum geht es auch im Buch. Das Kind, das namenlos bleibt und in der Wohnung gefangen ist, rettet sich in Sehnsuchtswelten. Es erinnert sich an die Grossmutter in Italien, träumt vom Meer aber auch von furchterregenden Wölfen, es entdeckt Comics, später Bücher und es entdeckt die Musik. Über die Imagination erschliesst es sich schliesslich die Welt — bis hin zur eigenen Identität.
Heimat in Geschichten
Ein Stück weit sei das auch für ihn so gewesen, sagt Todisco. Zumindest was die Heimat der Eltern anbelangt. Sein Vater, der früh das Recht auf Niederlassung erlangte und so die Möglichkeit hatte, sich mit seiner Familie schnell und gut in die Schweizer Gesellschaft zu integrieren, konnte dem Sohn von den Wurzeln nur in Geschichten erzählen. Und so malte sich der kleine Vincenzo die Felsen, von denen der Vater als Junge ins Meer gesprungen war in der Vorstellung aus.
Wie er in Erzählungen so mag sein acht Jahre jüngerer Bruder Marco die Heimat in der Musik gefunden haben. Der Autor drängt zum Soundcheck in die Helferei. Marco spielt am Flügel und singt, Vincenzo liest: Gemeinsam führen die Brüder den Themen des Romans entlang durch den Abend. Marco ist der Extrovertiertere der beiden, Vincenzo der Stillere. «Ich nehme es Ihnen überhaupt nicht übel, aber haben Sie bemerkt, wie Sie nach jedem Song applaudiert haben, nicht aber nach jedem Lesestück», fragt der Autor charmant das Publikum.
Die Kraft seines Textes erschliesst sich in der stillen Versenkung. Schicht für Schicht, fast wie in einem Gedicht, legen sich die Szenen übereinander. Wie beendet man eine solch intensive Geschichte? Von der ursprünglichen Idee, das ganze Leben der Figur zu erzählen, ist der Autor abgekommen und lässt den Roman mit einem offenen Schluss enden. Die stärksten Passagen sind jene, in denen Vincenzo Todisco die Beklemmung fast körperlich erfahrbar macht und von den kleinen Fluchten des Kindes erzählt. Von den Vorstellungswelten, später auch vom Kosmos der Gastarbeitergemeinschaft im Haus. Gut hat die Shortlist des Schweizer Buchpreises diesen Roman ins Schweinwerferlicht gerückt.
Vincenzo Todisco: «Das Eidechsenkind», Rotpunktverlag, 220 Seiten.
publiziert in AZ Nordwestschweiz / AZ Medien am 29. Oktober 2018. Bild © Claudio Thoma