Sein jüngster Roman «Nebelstreif» ist das Lieblingsbuch der Generation Greta. Ein Besuch auf dem Hof im Jura, wo Jean-Pierre Rochat ein halbes Jahrhundert mit Pferden, Rindern, Geissen gelebt hat — als Bauer und Schriftsteller
Klar, man könne sich zum Gespräch an den Tisch setzen, sagt Jean-Pierre Rochat freundlich. Dann zieht er doch lieber los, steigt über den Zaun und läuft über die Juraweide, dorthin, wo eine kleine Gruppe Freiberger im Gras steht, und mitten unter den Pferden ein junger Esel. Merlin heisst dieser. Rochat hat ihn jüngst im Freiburgischen gekauft. Anfang Jahr war er zu Fuss losgezogen, Richtung Südfrankreich, mitten im Winter. Ein halbes Jahrhundert lang hatte er den Hof auf dem Rücken der vordersten Jurakrete bewirtschaftet, bis ihn Ende 2017 das Rentenalter erreichte.
Requiem auf das Bauernleben
Rochat ist also nicht Konkurs gegangen. Anders der Bauer Jean Grosjean in seinem jüngsten Roman «Nebelstreif». Das Buch ist eine Art Chronik eines angekündigten Todes, zugleich ein Requiem, in dem der Hohepriester ein windiger Gantrufer ist. An dem einen Tag, an dem die Geschichte spielt, verscherbelt dieser das ganze Hab und Gut des Kleinbauern: zuerst die Gerätschaften, dann die Kühe, zuletzt sein geliebtes Pferd Nebelstreif. Während die Versteigerung läuft, steigen beim Bauern die Erinnerungen auf: mit jedem Werkzeug, jeder Maschine, jeder Kuh, bis sich diese zum Lebensbild fügen von einem «der mit der Erde, den Wiesen und den bewaldeten Weiden verbunden ist», ein kurzes Aufblitzen vor dem Tod. Denn soviel ist klar: Wenn Nebelstreif versteigert ist, sein «Herzblut», wird sich der Bauer die Kugel geben, an der Klippe über einem Abgrund, auf Nummer sicher, falls die Kugel allein nicht reicht.
In den Ruin getrieben hat den Bauern im Buch die Liebe. Er, der gedacht hatte, diese sei auf ewig, war mit dem Verlust von Frida in die Mühlen der Justiz geraten, danach verlor er sich im Treibsand der Bürokratie, bis anhin die Zuständigkeit seiner Frau. «Grossbauern, die nur auf einen Wirtschaftszweig setzen, können die Reglemente erfüllen», sagt Rochat, «aber für Kleinbauern sind die vielen je einzelnen Vorschriften für Rinder, Pferde, Geissen oder Hühner ein Verhängnis».
Jean-Pierre Rochat ist in Biel aufgewachsen, sein Vater war Uhrmacher, den «goût de la terre» hat er vom Grossvater geerbt, der das Bauernleben aufgegeben hatte, nicht aber die Sehnsucht danach. Wegen disziplinarischer Schwierigkeiten verliess Rochat als Jugendlicher vorzeitig die Schule. Dann lebte er zunächst als Rinderhirt im Jura, später als Pferdehirt im Schwarzenburgerland. In seinem ersten Buch «Berger sans étoiles» von 1984, das auf Deutsch im Zytglogge Verlag erschienen ist, erzählt er von dieser Zeit. «Als ich verstand, dass es möglich war zu leben, bäumte ich mich auf», schreibt er darin im ersten Satz. Später auch: «Je mehr der Mensch organisiert und modernisiert, desto mehr verschwinden unabhängige Wesen». Es ist ein wütendes Buch.
Kreislauf der Natur
Den Hof in Vaufflin konnte Rochat 1974 von der Burgergemeinde in Pacht übernehmen. Es seien die Siebziger Jahre gewesen, damals hätten viele Leute aufs Land ziehen wollen, sagt er. Als Aussteiger sieht er sich jedoch nicht unbedingt. «Es war einfach das, was ich immer machen wollte.» Die ersten zehn Jahre arbeitete er im Kreislauf mit der Natur nur mit Pferden, erst als er und seine Frau das erste ihrer drei Kinder bekamen, kaufte er einen Traktor.
Auch mit dem Schreiben fing er erst nach ein paar Jahren an. Die Zeit dafür trotzte er sich dem Schlaf ab, stand um drei oder vier Uhr morgens auf, las und schrieb bis es Zeit zum Melken war. In seiner Muttersprache Französisch hat Rochat 15 Bücher publiziert, drei sind auf Deutsch übersetzt. «L’écrivain suisse allemand», auf Deutsch «Melken mit Stil», ist eine Auseinandersetzung des Autors mit seinen zwei Leben. «Schreiben ist für mich eine Form, mit Leuten in Kontakt zu treten», sagt er. Im Frühling wurde sein jüngstes Buch als Roman des Romands ausgezeichnet, ein Preis, der von Gymnasiasten vergeben wird. Dass sich die Jungen für das Leben der Kleinbauern interessieren, freut ihn besonders. Die Konsumenten sollten auf dem Markt oder direkt bei den Bauern Produkte kaufen, das würde viel helfen, sagt er, der einst erfolgreicher Pferdezüchter war.
Symmetrische Schönheit
Wütend wirkt Jean-Pierre Rochat heute nicht mehr. Auch sein jüngstes Buch, obwohl es vom Niedergang eines Berufsstandes erzählt, ist es nicht. «Das werde ich nie erklären können, dieses Glück, Bauer gewesen zu sein, selbst wenn man davon zu Tode kommt», lässt er Jean Grosjean sagen. Das Buch hat eine prägnante, direkte Sprache und eine archaische, symmetrische Konstruktion, in der Leben und Tod sich wechselseitig bedingen, ebenso wie Liebe und Tod.
Weil der Staat Leuten über 65 keine Direktzahlungen mehr auszahlt, hat er den Hof seiner Tochter überschrieben. Damit war für ihn in Vaufflin kein Platz mehr, der Schwiegersohn wollte nach eigenen Vorstellungen wirtschaften. «Ich verstehe das, mir wäre es auch so gegangen», sagt der Bauer ohne Groll. Auf der Reise nach Südfrankreich hatte Jean-Pierre Rochat einen kleinen Hof finden wollen, um von Selbstversorgung fürs Schreiben zu leben. Doch dann entschied er sich für die Nähe zu seinen Enkelkindern. Und sucht heute in der Schweiz weiter.
Jean Pierre Rochat: «Melken mit Stil», 120 Seiten, 2015; «Nebelstreif», 104 Seiten, 2019, Verlag die brotsuppe.
Dieser Text wurde von der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung für Medienförderung ermöglicht und via keystone-sda publiziert, Bilder © Peter Klaunzer/keystone-sda