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Vom Stillstand zum Sprung

Eine Frau steht auf einem Dach und setzt das Leben einer Stadt in Bewegung. Simone Lappert erzählt in ihrem zweiten Roman «Der Sprung», wie ein Ausbruch aus der Normalität eine Verkettung von Ereignissen auslösen kann — eine Besprechung von Philipp Stolz

Der Mensch gewöhnt sich an beinahe jeden Umstand, sträubt sich gegen Veränderungen und beharrt auf der Erhaltung des Status Quo, oftmals in der Angst, die kleine Portion Glück, die er sich errungen hat, wieder zu verlieren: Der Mensch ist träge. 

Simone Lappert stellt ihrem Roman «Der Sprung» als Motto einen Auszug aus Isaac Newtons Ausführungen über das erste Gravitationsgesetz voran: «Ein Körper verharrt in Ruhe oder im Zustand der gleichförmig geradlinigen Bewegung, wenn keine äusseren Kräfte auf ihn einwirken.»

Vom Obdachlosen bis zur Bürgermeisterin

Die Trägheit des menschlichen Daseins erfahren die Protagonisten in Lapperts Roman an Leib und Seele. Der Polizist Felix schleppt ein verdrängtes Kindheitstrauma mit sich, das ihn in der Vergangenheit gefangen hält. Die Schneiderin Maren ist in einer erkalteten Ehe mit untreuem Mann erstarrt. Der ehemalige Hutmacher Egon wehrt sich sturköpfig, an der digitalen Gesellschaft teilzunehmen.

Die Figuren Lapperts könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein, vom Obdachlosen bis zur zukünftigen Bürgermeisterin, von der pubertierenden Teenagerin bis zum greisen Pensionär sind sämtliche Bevölkerungsgruppen vertreten. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, dass alle ein wesentliches Merkmal teilen: Sie verharren im Stillstand. Sie kennen die Gretchenfrage ihres Daseins, fürchten sich jedoch davor, sie zu stellen. Träge bewegt sich der Mensch gleichförmig durch den Kosmos, bis eine äussere Kraft hereinbricht.

Literarische Lebensstudien

Für die Menschen im fiktiven Thalbach trägt diese Kraft den Namen Manu. Manu steht auf einem Dach, wirft Ziegel und es sieht aus, als wolle sie sich hinunterstürzen. Die Polizei fährt auf und verursacht ein Spektakel, das tiefgreifende Veränderungen auslöst. Manus Ausbruch aus der Normalität führt dazu, dass die anderen Figuren ihr Leben reflektieren, ihre inneren Dämonen konfrontieren, erkaltete Beziehungen aufwärmen, neue Freundschaften knüpfen, offene Rechnungen begleichen oder den inneren Frieden finden: «Manu setzt mit ihrem Verhalten Geschichten in anderen frei», sagt die Autorin in den Presseunterlagen ihres Verlags.

Simone Lappert fokussiert auf das Zwischenmenschliche. Die Autorin widmet ihren Figuren je eigene Kapitel, durch die wechselnden Perspektiven gewinnt der Roman eine abwechslungsreiche Tonalität. Lappert legt Wert auf die sinnliche Wahrnehmung ihrer Figuren, das ist ein «essenzieller Schlüssel zur Glaubwürdigkeit», sagt sie. «Die Spitzwegerichknospen zischten, als Henry sie in die heisse Butter warf, ein herrlicher Geruch nach gebratenen Champignons stieg ihm in die Nase», schreibt sie über den Obdachlosen. Und weiter: «Es war ruhig um diese Zeit im Park, der Mann von der Security hatte die Gartentore bereits abgeschlossen.» 

Flügelschlagender Schmetterling

Manu steigt aufs Dach – was durchaus im Sinne der Redensart verstanden werden kann. Damit löst sie einen Schmetterlingseffekt aus, und die davon Berührten überwinden ihre Trägheit. Bisweilen muten einige der Wendungen beinahe kitschig an: Wie in einem abgedroschenen Teenie-Film knüpft die unbeliebte Winnie eine unvermutete Freundschaft zur «coolen» Salome, als sie sich an den bösen Jungs rächen. Ganz nebenbei verhilft die «nerdige» Pubertierende dem örtlichen Kleinladen auch noch aus der Insolvenz. Und der verkannte Hutmacher Egon findet in seinem Lebensabend unter kuriosen Umständen durch einen italienischen Modedesigner schlagartig zum Ruhm. Momente wie diese sind zwar Balsam für den verwundeten Gerechtigkeitssinn, hinterlassen aber einen schalen Beigeschmack. Die Geschichte von Manu hingegen bringt die Autorin zu einen uneindeutigen Schluss, und stellt damit die Frage in den Raum, was normal ist.

Simone Lappert brilliert mit ihrem zweiten Roman «Der Sprung» dort, wo sich die Lesenden in den Figuren wiederentdecken, sei es im Guten oder im Schlechten. So wie Manu durch ihr Ausbrechen aus der Normalität die Leute in Thalbach in Bewegung setzen kann, befreit die 34-jährige Autorin auch die Lesenden aus der Bequemlichkeit, indem sie ihnen die menschlichen Laster und Tugenden vor Augen führt: Literatur als flügelschlagender Schmetterling – eine kleine Ursache, die grosse Wirkung entfalten kann.

Simone Lappert: «Der Sprung», Diogenes, 334 S.