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Vorbildinnen

Zum Ende des Jahres, das ganz im Zeichen des Frauenstreiks stand, stellen wir vier Bücher von und über vorbildliche Frauen vor. Unsere Autorinnen und Protagonistinnen sind echt, vielseitig und mutig und gehen so ihren ganz eigenen Weg. Sie zeigen durch ihre Authentizität und durch ihren Umgang mit den Erwartungen der Gesellschaft, was eine Vorbildin ausmacht und wie unterschiedlich die Rollen der Frauen sind. Auf dass wir alle den Drive dieses weiblichen Jahres ins nächste Jahr mitnehmen und die Stimmen der Frauen nicht verstummen

Gebt ihr einen Namen!

von Céline Burget

Da ist die Insel, auf ihr liegt eine Strasse mit Kurve, es gibt ein Dorf, eine Dorfkneipe, eine Religion. Begrenzt durch das Meer dringt nichts zu den Inselbewohnern durch. In diesem archaisch-patriarchalen Dorf wird streng zwischen den Geschlechtern unterschieden. Frauen können weder lesen noch schreiben, dürfen an der Politik nicht teilnehmen, arbeiten ohne Pause. 

Die Hauptfigur von Karen Köhlers Debütroman «Miroloi» stammt nicht von der Insel und wird durch Beschimpfungen immer wieder an diesen Umstand erinnert. Besonders belastend wirkt sich allerdings die Tatsache aus, dass das Dorf der Schlüsselfigur keinen Namen gegeben hat. Im Verlauf des Romans soll ihr aber genau das gelingen, sie erhält einen Namen, lernt unerlaubt schreiben und lesen und beginnt die Gesetze zu hinterfragen. Nicht nur inhaltlich weiss der Roman zu überzeugen, auch sprachlich ist Karen Köhler kreativ und tiefsinnig. Geht es darum, wie Lebensumstände die Sprache prägen, zeigt sich im Roman, dass es genauso andersherum funktioniert. Sprache formt auch unser Denken und die Realität. 

Ein Vorbild?
Köhlers Hauptfigur wehrt sich entschieden gegen gesellschaftliche Konventionen und gelangt trotz Gegenwehr zu einem selbstbestimmten Weg.

Fazit
Indem die Protagonistin zu einem Namen findet, findet sie zu einem neuen Selbstbewusstsein und sobald sie die grammatische Form des Konjunktiv kennenlernt, gelingt es ihr auch Distanz zu denken. Konjunktive verwenden wir je nach Form, um mögliche Situationen anzuzeigen und um Irrealitäten zu formulieren. Die Ereignisse des Romans könnten wie das Schicksal eines Dritten erzählt werden, die Umstände der Handlung erscheinen mal unmöglich und dann doch erschreckenderweise vorstellbar. Insofern liest sich dieser Roman selbst wie ein Konjunktiv. 







Karen Köhler: «Miroloi», Hanser, 464 Seiten

Unser Herr mit Rock

von Lukas Ruchti

In der Biografie «Die illegale Pfarrerin» hält Christina Caprez die Lebensgeschichte ihrer Grossmutter Greti Caprez-Roffler fest. Als Pfarrerstochter in die Fussstapfen ihres herrschsüchtigen Vaters gelenkt hat diese «ausser dem Studium weder jetzt noch irgendwann irgendetwas zu existieren». Doch zu feministischem Selbstvertrauen gekommen, erfüllt sie sich ihren Kinderwunsch, nimmt gegen den Willen des Bündner Kirchenrats als erste Frau der Schweiz das Pfarramt eines Bergdorfs an und sorgt damit über die Schweizer Grenzen hinaus für Furore.

Elegant verwebt die Autorin Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenz mit Zeitzeugenberichten und anderer Quellen. Dabei gelingt es ihr gleichermassen die aufstrebende Pfarrerin und das gesellschaftliche Leben der Frau im frühen 20. Jahrhundert zu portraitieren.

Besondere Rollen spielen die Männer in Gretis Leben: Vom prägenden Mentor über den vertrauten Freund und «Ehekameraden» hin zu rückständigen «Hemmschuhen» oder gar einem triebgesteuerten Rektor, der kurz vor Gretis Schlussexamen seine Machtposition missbraucht.

Ein Vorbild?
Im patriarchischen Umfeld der 1920er und 30er behauptet sich Greti gegen den konservativen Widerstand und verfolgt, trotz grosser Selbstzweifel, unbeirrbar ihr revolutionäres Ziel von Pfarramt und Mutterschaft und dient damit Generationen nachkommender VisionärInnen als Vorbild.

Fazit
Leider verlieren sich beide Frauen im letzten Drittel des Buches. Greti darin, die gewaltigen Erwartungen gegenüber Familie und Berufung zu vereinbaren, ihre Enkelin darin, die Fülle an Lebenswendungen und emanzipationsgeschichtlichen Ereignissen im Zeitraum von 59 Jahren mit der anfangs so mitreissenden Energie aufzubereiten.







Christina Caprez: «Die illegale Pfarrerin. Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906-1994»; Limmat, 392 Seiten

Mütter gehen uns alle an

von Noëmi Fricker

Wie zieht eine Schriftstellerin den Hass einer ganzen Nation auf sich? Sie schreibt ein ehrliches Buch über ihre persönliche Erfahrung der Mutterschaft. Rachel Cusk hat vor bereits 18 Jahren ihre Gefühle und Erlebnisse als werdende und junge Mutter niedergeschrieben – ehrlich, schonungslos, offen und sich damit verletzlich und angreifbar gemacht. Keine Erwartung an die Rolle einer Frau ist in unserer Gesellschaft so gigantisch, so unreflektiert und so unbestritten wie die an die Rolle der «Mutter». Eine Mutter muss lieben, bedingungslos. Sie muss da sein für ihr Kind, bis zur Selbstaufgabe. Sie muss ihren Körper der Öffentlichkeit preisgeben, ganz selbstverständlich: Jede Schwangerschaft wird medizinisch begleitet, akribisch dokumentiert und an klaren statistischen Normen gemessen. Das Kind steht im Fokus. Die eigentlich private und sehr intime Erfahrung von werdender Mutter und Kind wird zum Gegenstand öffentlicher Diskussion und öffentlichem Urteil. Eine Frau kann sich dem kaum entziehen.

Mit dem englischen Original hat sich Rachel Cusk laut der Zeitschrift Guardian zur «meistgehassten Schriftstellerin» gemacht. Die erst jetzt erschienene deutsche Übersetzung des Buches zeigt die ungebrochene Wichtigkeit seines Inhaltes. Denn da ist eine Mutter, die liebt. Sie liebt ihr Kind, aber sie liebt auch sich selbst und die Person, die sie einmal war, bevor sie Mutter wurde.

Ein Vorbild?
Rachel Cusk schreibt über ihre ganz persönlichen Empfindungen, Gedanken und Kämpfe mit dem Mutter-Sein. Sie ist dabei so rigoros, so authentisch, so offen, dass es mitunter weh tut, zu lesen, was da geschrieben steht. Doch durch ihren Umgang mit dem Dilemma zwischen Bedürfnissen und Erwartungen schlägt sie eine Brücke zu der Realität eines jeden Elternteils, der ein Kind aufzieht. Das Lesen dieses Buches ist eine Bereicherung für die Versöhnung mit den eigenen Schattenseiten.

Fazit
Ein Buch, das jede Frau und jeder Mann gelesen haben sollte. Mutterschaft ist ein Thema, das uns alle angeht, denn wir alle kommen von und sind dank unseren Müttern. 







Rachel Cusk: «Lebenswerk. Über das Mutterwerden».
aus dem Englischen von Eva BonnéSuhrkamp. 218 Seiten 

Weihnachten auf der anderen Seite

von Julia Wang

«Wiederbelebungsmassnahme 32,50 Euro» liest Rahel Wald auf einer Rechnung vom 25. Dezember. Weihnachten verbrachte sie auf der Intensivstation. Als sie aufwacht, erkennt sie ihren ausgemergelten Körper kaum noch wieder und kann sich nicht mehr daran erinnern, wieso sie im Krankenhausbett liegt. Willkommen auf der anderen Seite, der Seite der Versehrten. 

Anika Deckers Erstroman «Wir von der anderen Seite» schildert in unbeschwerlichem Ton eine beschwerliche Reise, hin zur Gesundung und Selbstbestimmung. Die Protagonistin ist eine richtige Karrierefrau, eine Drehbuchautorin, die selbst auf der Intensivstation an ihre Arbeit denkt. Trotz ihrer gesundheitlichen Lage spielt Rahel die tapfere Patientin und bringt sowohl Spitalmitarbeitende, Familie und Freunde, als auch den Leser immer wieder zum Lachen.

Ein Vorbild?
Die Protagonistin ist keine Frau ohne jegliche Schwächen. Bald merkt man, dass der Pausenclown, als den sie sich ausgibt, eine Art Fassade ist. Als Leser, bekommt man auch ihre Verletzlichkeit zu spüren: ihre Ängste, Zweifel und Probleme, die nicht nur aus ihrer Krankheit, sondern teilweise auch aus den sexistischen Schattenseiten der Gesellschaft resultieren. Der Humor, der Rahel erst als tough erscheinen lässt, ist in Wahrheit «ein probates Mittel, um mit Schmerz umzugehen oder der Gefahr ins Auge zu sehen». Man leidet mit der Protagonistin mit, lacht über ihre Witze und bewundert sie für ihren Mut – denn Mut bedeutet ja, die eigene Angst zu überwinden.

Fazit
Wir von der anderen Seite ist kein hochliterarischer Roman mit geschnörkelter Sprache. Es ist ein sehr menschliches Buch mit einer sehr alltäglichen Sprache. Auf der anderen Seite, mit dem Tode konfrontiert, sieht man das Leben plötzlich aus einer anderen Perspektive.







Anika Decker: «Wir von der anderen Seite», Ullstein, 384 Seiten