Ivna Žic erzählt in ihrem Romanerstling «Die Nachkommende» von inneren und äusseren Rissen in einer Sprache, die manchmal rastlos, sprunghaft und oft peinlich genau aber dennoch poetisch verschwommen ist — eine Besprechung von Noëmi Fricker
«Es begann ohne Ähnlichkeiten, aber mit einem Wiedererkennen. Mit einem sich Wiedererkennen im anderen, das bisher unbekannt gewesen war»: Ivna Žic beschreibt zwei Frauen, die denselben Mann lieben. Doch ihre Sätze zeigen auch etwas Grösseres, etwas Allgemeineres, was ihr Roman «Die Nachkommende» in so vielerlei Hinsicht zu beleuchten vermag: Wie sehr wir Menschen Teil eines grossen Ganzen sind, das uns manchmal wegen seiner Grösse, Vielfältigkeit und all der beinhaltenen Möglichkeiten zu zerreissen droht.
Vielgestaltige Zerrissenheit
Ivna Žics Roman ist ein Buch über die Zerrissenheit. Über die Zerrissenheit zwischen Welten, Ländern, Sprachen, Zeiten, Gefühlen, Entscheidungen und Menschen. Die 33-jährige Autorin ist in Zagreb geboren und in Zürich aufgewachsen. Sie kennt die Zerrissenheit, wie sie die Hauptfigur in «Die Nachkommende» in komplexer Vielschichtigkeit erlebt, aber es wäre zu einfach, dies nur der Multinationalität der Autorin zuzuschreiben. «Ich hoffe, nicht nur Menschen mit zwei Nationalitäten kennen das Gefühl einer gewissen inneren Zerrissenheit, jeder trägt doch vielleicht mehrere Orte oder auch Sprachen in sich und das lässt uns alle Risse spüren», schreibt Ivna Žic auf Anfrage per Mail. Nicht nur die Orte, an denen wir am liebsten gleichzeitig wären und es dennoch nicht sein können, lassen uns innere Risse empfinden, auch die Menschen, mit denen wir nicht immer zusammen sein können. Manchmal, weil wir es nicht so sehr wollen, wie sie es sich wünschten. Manchmal, weil sie schon gestorben sind und manchmal, weil wir sie lieben und dennoch mit anderen teilen müssen.
All dies erfährt die junge Erzählerin in Ivna Žics Erstlingsroman und lässt an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben. Und genau wie diese manchmal rastlos, manchmal schnell, manchmal sprunghaft und oft peinlich genau und dennoch poetisch verschwommen sind, genau so ist auch die Sprache des Romans. Fast ist der Schweiss riechbar und die Hitze spürbar, wenn Ivna Žic ihre namenlose Erzählerin diese sinnlich erfahren lässt. Fast ist das Schnauben des Ban-Jelačić-Pferdes hörbar, wenn die Autorin die Grenzen der Realität aufweicht, wie es nur Gedanken können. In der Fantasie der Erzählerin wird die starre Reiterstatue immer wieder zu ihrem schnaubenden, dynamischen Begleiter.
Die Nachkommende und die Gebliebenen
Die Nachkommende kommt nach, es ist Sommer und sie reist nach Kroatien, in die Heimat ihrer Familie, wo die einzige noch lebende Grossmutter auf sie wartet, auf der kleinen Insel im Meer, auf der sie schon immer lebte. Die junge Erzählerin, die wie die Autorin in Zürich aufgewachsen ist, kommt von Paris, wo sie sich mit ihrem Liebhaber getroffen hat, der verheiratet ist – und sie fährt nicht zu ihrer Grossmutter ans Meer, obwohl sie deren sehnsüchtige Erwartung und die bohrenden Fragen nur allzu gut kennt. Sie bleibt in Zagreb, in der Wohnung ihrer anderen Grosseltern, ignoriert unzählige Anrufe von Verwandten, Bekannten, vom Liebhaber.
Immer wieder begegnet sie ihrem verstorbenen Grossvater, der in Kroatien und schliesslich in ebendieser Wohnung festsass. Der die Malerei aufgegeben hatte. Der zwei Mal aus Kroatien zu emigrieren versuchte und schliesslich doch blieb. Den die grosse Liebe zu seiner Frau verband. Der nie mehr malte, weil vielleicht die Leinwände irgendwann so klein geworden waren, dass es sie plötzlich nicht mehr gab. Der dafür Märchen erzählte wie kein anderer und seine Grosskinder durch seine Erzählungen mit in eine zauberhafte Feenwelt nahm. Dieser Deda ist tot, aber er begleitet die junge Erzählerin durch Zagreb, durch Paris, durch die Heimfahrt mit dem Bus Richtung Zürich, er begleitet sie, weil er ihr nicht mehr erzählen kann, was er in seinem Leben vermisst, was er verpasst und was er aufgegeben hat – und ob es sich für die Liebe am Ende doch gelohnt hat.
Vermittelnde Sprache
Ivna Žics Roman ist voller Eindrücke, Emotionen und Gedanken. Diese werden durch die gekonnt eingesetzte Sprache auf eine Art transportiert, die ein sich Eindenken und Einfühlen in die Nachkommende, ein Wiedererkennen im anderen, im bisher Unbekannten ermöglicht. Eine Sprache, die auch dank ihrer Vielseitigkeit und Mehrsprachigkeit eine Verbindung zu schlagen vermag zwischen Orten, Menschen und Zeiten. Dieser szenische Einsatz von Sprache ist kein Zufall: Die Autorin kommt von der Bühne. Als Regisseurin und Theaterautorin ist sie seit zehn Jahren aktiv und hat für ihre Arbeit mehrere Preise gewonnen. Ivna Žic sagt: «Mir geht es darum, der Vielsprachigkeit, die ich in mir trage, aber auch täglich in der Welt, im Tram, Bus, Zug höre, einen Raum zu geben».
Ivna Žic: «Die Nachkommende», Matthes&Seitz, 164 S.
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