Er wird als Shootingstar der Literaturwissenschaft gehandelt und ist so zugänglich wie kaum ein anderer: Philipp Theisohn, neuer ordentlicher Professor an der Universität Zürich. Ein Gespräch über Erwartungshaltungen an Autoren, die gesellschaftliche Notwendigkeit der Literatur und den Glauben an die neue Stärke der Frauen
Für einmal kommt er nicht in Jeans und schwarzem T-Shirt daher, sondern adrett im Anzug. «Philipp», sagt er zur Begrüssung. Dann, «Isch es okay?». Und erklärt gleich den ungewohnt formalen Auftritt: Nach dem Gespräch gehts weiter zu einem internationalen Literaturempfang. Die Nähe, das Informelle und die Vernetzung, nicht nur international, sondern gerade auch in der Schweiz: Das umreisst gut, was den neuen Literaturprofessor der Universität Zürich ausmacht.
Philipp Theisohn, seit diesem Sommer sind Sie ordentlicher Professor für deutsche Literatur. Was heisst das für Sie?
Für mich persönlich ist es zunächst einmal etwas Schönes, weil ich jetzt eine feste akademische Heimat hier in Zürich habe. Vor allem aber ist damit ein inhaltlicher Auftrag und eine entsprechende Verantwortung verbunden: Die Schweizer Gegenwartsliteratur und die Literaturvermittlung bekommen jetzt einen festen Ort.
Diese Inhalte verbindet man stark mit Ihnen. Was heisst das für das Deutsche Seminar?
Ich bin eher Praktiker als Theoretiker der Gegenwartsliteratur und der Literaturkritik und bin zufällig in dieses Gebiet hineingerutscht, weil ich viel für das Feuilleton geschrieben habe und auch sonst steten Kontakt zum Betrieb pflege. In meiner universitären Arbeit wird es vor allem darum gehen, zu schauen, wie der Literaturbetrieb funktioniert, wie Gegenwartsliteratur mit der Rezeption zusammenspielt, wie weit man an der Literatur etwas über gesellschaftliche Diskurse ablesen kann: Gibt es bestimmte Themen, die sich vertiefen, andere, die abklingen, gibt es – auch mit Blick auf die nichtdeutschsprachigen Literaturen unseres Landes – eine spezifische Schweizer Gegenwartsliteratur? Diese Fragen bekommen jetzt hier einen grossen Stellenwert.
Was interessiert Sie daran?
Gegenwartsliteratur ist in Bewegung. Wir wissen noch nicht, was von ihr bleibt, ob etwas bleibt, wir wissen auch nicht, ob wir die falschen Dinge anschauen, ob wir durch die Medienberichterstattung übersteuert werden, bei der sich die ganze Aufmerksamkeit auf vier, fünf Titel richtet. In zwanzig Jahren sagt man vielleicht, andere Bücher waren viel wichtiger, aber sie wurden nicht gesehen.
Ganz grundsätzlich, wozu braucht es Literaturwissenschaft?
Wir müssen uns differenziert über Literatur, aber auch über Film, Theater oder Musik unterhalten können. Wir sind von kulturellen Erzeugnissen umgeben und müssen sie erklären können. Nicht nur Experten sollen das tun, aber gerade deshalb muss man Experten zuschauen können. Man schult dabei das eigene Urteilsvermögen. Es ist ein Grundbedürfnis, dass wir uns Zusammenhänge klar machen, uns überlegen, wo Kunst herkommt, wie sie entsteht, was sie verknüpft und welche Bedeutung sie in unserer Gegenwart einnimmt. Es geht um kritisches Denken.
Wie weit unterscheiden Sie sich damit von der Kulturberichterstattung in den Medien?
Die Literatur ist momentan einem grossen ökonomischer Druck ausgesetzt, aber auch einem Druck, der von der Fluktuation der Aufmerksamkeit herrührt. Buchbesprechungen nehmen in der Kulturberichterstattung einen immer bescheideneren Stellenwert ein. Abseits der grossen Feuilletons geht der Trend auch spürbar zum ‹Feature›…
… zu szenischen Texten, die auf die Wiedergabe des Inhalts fokussieren.
Die Information beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass es ein neues Buch gibt, zu welchem Thema und ob es gefallen hat. Meistens hat es gefallen, sonst würde gar nicht darüber geschrieben. Wir sind aber dazu da, Dinge komplizierter zu machen. Muss man viel öfter das Sperrige, Querliegende, auch das Misslungene betrachten, weil wir dabei oft erst lernen, nach welchen Kriterien sich unser Geschmacksurteil richtet. Es geht dabei nicht um Aburteilen. In der Kultur kann man die Dinge ohnehin nie endgültig auflösen. Darin unterscheidet sie sich vom Konsum, der zweckdienlich ist und das Leben leichter macht.
Was ist eine gute Analyse?
Eine gute Analyse von Gegenwartskultur fragt nach den Entstehungsweisen unserer Umwelt, nach den Bedingungen, die einerseits Kultur – breit gedacht, als Alltagskultur – hervorbringen und andererseits nach unserer eigenen Rolle bei der Produktion und Rezeption dieser Phänomene. Wir alle laufen mit bestimmten Erzählungen herum. Erzählungen haben eine grosse Macht, gerade weil wir uns – insbesondere in der Beurteilung politischer Sachverhalte – frei von ihr wähnen. Aber an einem bestimmten Punkt schlägt unsere Verknüpfung von Fakten immer in Erzählungen um. Dann geht es darum, diese in ihrer Logik zu durchschauen, auf ihre Plausibilität zu überprüfen.
Was ist eine solche Erzählung?
Eine grobe und dadurch sehr angreifbare Erzählung ist politische Propaganda. Gesellschaftliche Narrative hängen oft mit Machtverhältnissen zusammen. Aber meist sind es viel subtilere Narrative und sie sind mächtiger, je subtiler sie sind. Kunst ist vielleicht das einzige Feld, in dem kritisches Bewusstsein entwickelt und geschult werden kann, weil alle Kunst ideologisch ist. Wir lesen einen Roman und in dem Moment, in dem wir ihn lesen, ist seine Wirklichkeit unsere Wirklichkeit. Natürlich ist es eine gemachte Wirklichkeit, das wissen wir. Wir werden die Welt des Romans deswegen immer wieder in Relation zu unserer erlebten Wirklichkeit setzen. Diese Schulung ist heute umso dringlicher, da die öffentliche Auseinandersetzung so an Aggressivität zugelegt hat.
Sie publizieren mit Ihren Studierenden literaturkritische Texte. Springt die Universität ein, wo das kritische Denken aus den Medien wegbricht.
Es sind zwei Bewegungen, die man zusammen denken kann. Zunächst einmal finden sie unabhängig voneinander statt. Das Feuilleton wird sukzessive abgebaut, Medien sparen, sie überlegen, was ihnen am wenigsten einträgt. Auf der anderen Seite hat die Universität die angewandte Literaturwissenschaft entdeckt, die verschiedene Felder bespielt. Die Kritik ist eines davon.
Raus aus dem Elfenbeinturm also. Das ist ein Paradigmenwechsel.
Das vielleicht nicht. Es gab und gibt immer wieder Wissenschaftler, die programmatisch die Öffentlichkeit in ihr Denken miteinbezogen haben, ganz herausragend natürlich der Soziologe Kurt Imhof. Und Peter von Matt war zweifellos der bedeutendste Exponent einer ‹öffentlichen Literaturwissenschaft›. Die Anschlussfähigkeit der Literaturwissenschaft an die öffentlichen Debatten ist immer gegeben, hin und wieder muss man die Aufmerksamkeit darauf richten. Vor dem Frauenstreik haben wir beispielsweise eine feministische Aktionswoche veranstaltet und verschiedenen Autorinnen im ‹Schweizer Buchjahr› ein Forum geboten.
Das ist der Blog, den Sie mit Ihren Studierenden betreiben.
Das ‹Schweizer Buchjahr› ist ein literarischer Almanach, der ein Bild der Gegenwartsliteratur zeichnet, das wir auch mitformen. Vor zwei Jahren konnte man dort etwa erkennen, dass der fliehende Mann ein grosses Thema war – die mittelalten Männer, die aussteigen in den Büchern von Peter Stamm, Jonas Lüscher, Lukas Bärfuss und ein paar anderen. Im Moment taucht das Thema nicht mehr auf. Dafür kommt die Paarbeziehung zurück. Aber wir schauen auch ganz oberflächliche Dinge an. Zum Beispiel, was für eine Rolle das Smartphone in der Literatur spielt. Literatur ist ein Seismograph für Aufmerksamkeiten, die wir als Gesellschaft vergeben.
Wie schätzen Sie die Gegenwartsliteratur ein?
Weltweit? Ich würde mir nicht zutrauen, dazu etwas zu sagen. Der chinesische Literaturbetrieb – ich hatte gerade Hao Jingfang zu Gast und habe mit ihr darüber gesprochen – organisiert sich zum Beispiel ganz anders als der europäische. Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist, im Bewusstsein zu schreiben, dass ein Text möglicherweise nicht gedruckt wird. Oder wie man schreiben muss, damit er gedruckt wird. Ich muss überlegen…
Was ist Ihr ganz persönlicher Eindruck?
Es gibt ja eine globale Krise, also kann man umgekehrt fragen, haben wir eine Krisenliteratur? Ich nehme momentan stark die Aufheizung wahr, die Rauheit des öffentlichen Diskurses, die Frontenbildung. Streitschriften und Kampfschriften kommen. Grundsätzlich gibt es momentan wieder viel mehr Autorinnen und Autoren, die sich dezidiert politisch engagieren oder sich zumindest politisch äussern. Das hat zweifellos damit zu tun, dass die Literatur dort, wo die Generalisierungen stärker werden, für die Differenzierung eintreten muss.
Und wo steht die Schweizer Literatur heute?
Man müsste erst einmal fragen, was ‹Schweizer Literatur› überhaupt ist.
Was ist Schweizer Literatur für Sie?
Es gibt zunächst einmal Schweizer Literaturen. Die institutionelle Antwort sagt, Schweizer Literatur ist Literatur von Schweizer Autoren oder Autoren, deren Lebensmittelpunkt in der Schweiz liegt. Für mich ist es Literatur, die sich mit der Schweiz als literarischem Raum beschäftigt.
Wie meinen Sie das?
Grundsätzlich finde ich Nationalkategorien in der Literatur nur dann sinnvoll, wenn sich damit eine spezifische Textwelt verbindet. Konkret: Der Rückgriff und der Bezug auf Politik, Geschichten, Landschaften, an denen man sich abarbeitet, sie umschreibt, neu schreibt, in die man hineingeht. Das gibt eine echte Geschichte.
Was wäre eine so verstandene Schweizer Literatur?
Paul Nizons ‹Diskurs in der Enge› formuliert bestimmte Bedingungen. Die Schweiz entwickelt ein eigenes Profil immer dort, wo sie über sich hinaus will. Daraus erklärt sich nicht allein, warum die Schweiz einen ganz eigenen Bezug zur Science Fiction und zur Zukunftsfiktion hat, sondern auch zu den Schächten, zur Tiefe. Mit diesen Tunnelbauten, angefangen bei Dürrenmatt, perfektioniert bei Hermann Burger, verbindet sich immer die Vorstellung, dass auf dem Grund dieser Landschaften etwas verborgen liegt, das möglicherweise Erklärung oder Heilung verspricht. Beispiele in der jüngeren Literatur sind Dorothee Elmiger und Michael Fehr. Andere Wege der Selbstüberwindung standen und stehen der Schweizer Literatur offenbar weniger offen. In der Schweizer Literatur gab es zum Beispiel keinen Pop. Populärkultur wird in der Schweizer Literatur anders verhandelt als in Deutschland. Man hat andere Vorstellungen von Ironie. Das Slackertum der 90er Jahre sucht man da vergebens.
Was für Tendenzen sehen Sie in der aktuellen Schweizer Literatur?
Das Kleine ist typisch. Schweizer Romane sind alle viel schmaler als Romane aus Deutschland, selten umfassen sie mehr als 200 Seiten. Eine gegenwärtige Tendenz ist sicher der Rückzug auf das ländliche Leben mit Autoren wie Jean-Pierre Rochat oder Noëmi Lerch. Dann gibt es augenblicklich eine starke Tendenz zu kindlichen Figuren – bei Flurin Jecker, Tabea Steiner, Sibylle Berg oder Julia Weber, auch bei Niko Stoifberg und Vincenzo Todisco. Und dann gibt es eine Mythologisierung und den Rückgriff auf Stoffe, bei Adam Schwarz, Gabriele Alioth oder Anita Hansemann, die vor wenigen Wochen verstorben ist.
Julia Weber, Noëmi Lerch, Flurin Jecker oder eben auch Michael Fehr und Dorothee Elmiger haben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studiert. Wie beurteilen Sie diese Ausbildung?
Ich werde zunehmend skeptisch, da ich mittlerweile allzu oft das Gefühl habe, Dorothee Elmiger zu lesen, ohne dass der Text von Dorothee Elmiger ist. Dieses ‹entwirklichende Erzählen› ist etwas Typisches für Texte aus Biel geworden. Es gibt diesen Sound, der sich durch unterschiedliche Texte und unterschiedliche Themen immer hörbarer durchzieht.
Oft wird auch die Vernetzung gelobt, die Biel ermöglicht.
Wenn Literatur aus Autorennetzwerken entsteht, kommt sie aus einem ziemlich homogenen sozio-kulturellen Milieu. Aber Diversität ist gerade in der Literatur sehr wichtig – Geschlechterdiversität, multiethnische Diversität, soziale Diversität und Altersdiversität. Biel festigt einen bestimmten strukturellen Blick auf Literatur als soziale Formation.
Sie haben öffentlich gesagt, sie hätten grosse Hoffnung in die Frauen der Schweizer Literatur. Wie meinen Sie das?
Die Erwartungshaltung, dass es einen Schriftstellerphilosophen wie Frisch oder Dürrenmatt braucht und dass das ein Mann mit einem bestimmten Habitus sein muss, ist in der Schweizer Öffentlichkeit sehr verbreitet. Dieses Rollenbild prägt das öffentliche Bild der Schweizer Literatur. Frauen haben es durchaus schwerer, sie gelten lange als ‹Nachwuchs›, weil die Rollenbilder und die dazugehörigen Gesellschaftspositionen fehlen. Umgekehrt erwachsen ihnen daraus aber auch Freiheiten.
Was für Freiheiten?
Je vorgefasster die Autorenbilder sind, umso mehr Inszenierungsdruck gibt es. Bis zu einem gewissen Alter kann man sich als Mann noch als Freak inszenieren, später bleibt fast nur noch die Option Staatsmann. Unter den faszinierendesten schreibenden Persönlichkeiten der Schweiz gibt es hingegen weitaus mehr Frauen: Angefangen bei Annemarie Schwarzenbach, später Mariella Mehr, Fleur Jaeggy oder Gertrud Leutenegger. Heutige Autorinnen, die sich abseits der Konventionen bewegen sind Martina Clavadetscher, Noëlle Revaz, Monique Schwitter, Judith Keller oder Katja Brunner.
Die New York Times hat kürzlich eine Auswahl Bücher von Autorinnen vorgestellt, die das Schreiben im 21. Jahrhundert verändern werden. Beobachten Sie etwas ähnliches in der Schweiz?
Prägende und somit stabile Rollenbilder von Autorinnen aufzubauen, halte ich für den falschen Ansatz. Autorenbilder wird es immer geben, davon werden wir nicht abkommen. Aber wir müssen für eine grössere Vielfalt offen sein. Und wir müssen wissen, dass es Bilder sind, dass wir diese selbst produzieren und dass wir sehr schnell diesen Bildern glauben, selbst wenn die Fakten, also die Texte, die wir lesen, dagegen sprechen. Es gibt aber umgekehrt auch Autoren, die ihr Rollenbild mit dem Werk mitgelesen haben wollen und bewusst damit spielen. Martin Suter ist diesbezüglich ein interessantes Beispiel. Dieses Phänomen nimmt zu. Gerade auch die Selbstinszenierung auf Social Media wird für Literaturarchive ein interessantes Thema werden.
Sie selbst sind auf Social Media sehr aktiv – was für ein Professorenbild zeichnen Sie dort von sich selbst?
Ich weiss nicht, ob das, was man da zu sehen bekommt, ein ‹Professorenbild› ergibt. Ich dokumentiere in erster Linie die Dinge, die mich in der täglichen Arbeit beeinflussen. Essentiell ist das für mich nicht, aber ich komme dadurch manchmal in Austausch mit anderen Menschen über interessante, mir noch rätselhafte Dingen. Das ist es mir wert.
Philipp Theisohn, 44
Seit Juli ist Philipp Theisohn neuer ordentlicher Professor für deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar in Zürich. Einer breiten Öffentlichkeit wurde der heute 44-Jährige mit seinem Buch «Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte» von 2009 bekannt, ein Referenzwerk, das seither bei allen öffentlichen Debatten über das Abschreiben beigezogen wird. Einen grossen Bogen über Denk- und Zeiträume schlug er auch mit seiner Habilitationsschrift «Geschichte des literarischen Orakels von 1450 bis 2015». Theisohn hat in Tübingen und Zürich studiert, 2008 wurde er Oberassistent an der ETH, 2013 erhielt er eine Förderprofessur an der Universität Zürich und leitete dort das Forschungsprojekt «Conditio extraterrestris» über Science Fiction. Der Literaturwissenschaftler hat keine Berührungsängste mit Populärkultur, bezieht aber auch Stellung zu Klassikern wie Carl Spitteler oder Gottfried Keller und sucht die Nähe zum Publikum. Er war Mitglied der Jury des Schweizer Buchpreises, schreibt Rezensionen in der NZZ und neuerdings in der FAZ, moderiert Lesungen und hat gemeinsam mit seinen Studierenden den Buchblog «Schweizer Buchjahr» aufgebaut. Philipp Theisohn lebt mit seiner Frau und seiner Tochter im Teenageralter in Zürich.
Bild © Sandra Ardizzone